Urban Gothic (German Edition)
welches politische Schild im Garten aufgestellt hat. Das ist alles. Hier in der Gegend kennen wir uns. Scheiße, fast der ganze Block weiß übereinander Bescheid. Wir wissen, wenn jemand krank ist, wenn jemand Streit hat, wenn sich jemand getrennt hat, wenn jemand verhaftet wird oder wenn jemand den Job verliert. Wir können gar nicht anders, als über unsere Nachbarn Bescheid zu wissen, weil wir hier mit ihnen festsitzen. Aber draußen in den Vororten kennen sie sich nicht, und ich sag euch, worüber sie auch nichts wissen – über ihre Geschichte.«
»Dann sind sie ja wie wir«, murmelte Chris. »Wollen Sie darauf hinaus?«
»Nein«, widersprach Perry. »Sie sind nicht wie wir. Hier kennen die Leute die Geschichte des Viertels nicht, weil sie ihnen scheißegal ist. Draußen in den Vororten kennen sie die Geschichte ihrer Gegend nicht, weil sie in den meisten Fällen überhaupt keine hat. Einen Großteil der Vororte hat es vor zwei Jahrzehnten noch gar nicht gegeben. Das sind alles neue Häuser und Wohnsiedlungen, davor wuchsen dort noch Getreidefelder und Wälder. Gäbe es da eine Geschichte, würden sie regelrecht darüber herfallen – sie würden Gedenktafeln aufstellen und all so ’n Scheiß. Aber das geht nicht, weil sie nichts haben, woran die Tafeln erinnern könnten. Das ist ein Vorteil für uns. Unser Viertel ist alt. Wir haben eine Geschichte. Wir bräuchten sie nur anzunehmen, müssten uns lediglich darüber informieren. Tun wir aber nicht. Letzten Endes sind wir nicht besser als die. Also liege ich vielleicht falsch. Jetzt, wo ich so darüber nachdenke, hast du vielleicht doch eher recht, Chris.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Markus.
»Tatsache ist, Jungs, dass es die Leute einen Scheißdreck interessiert, ganz gleich, wo sie leben. Es gibt zu viele andere Dinge, über die sie sich den Kopf zerbrechen müssen. Hier bei uns sind das Drogen, wie wir die nächste Miete zahlen, wie wir unsere Kinder aus dem Knast raushalten, und all die durchgeknallten Mistkerle, die an Straßenecken und auf Spielplätzen rumballern. Die Schreckgespenster in dem Spukhaus am Ende des Blocks zählen im Vergleich dazu einfach nicht. Schon gar nicht, weil ja nur dann was passiert, wenn jemand so dämlich ist, reinzugehen. Die meisten von uns können es sich ohnehin nicht leisten, wegzuziehen. Also lernt man, damit zu leben. Es zu ignorieren. Vielleicht sogar, es zu akzeptieren. Solange es nicht wir selber sind oder Menschen, an denen uns was liegt, die in das Haus gehen, ist es uns schnurzegal. Und wenn es den Leuten hier schon schnurzegal ist, warum sollten dann die Bullen und die Politiker auch nur einen feuchten Dreck drauf geben?«
Er verstummte, schnippte seinen Zigarettenstummel auf die Straße und fuhr anschließend fort: »Scheiße. Früher war das eine nette Gegend. Die Leute haben sich draußen miteinander unterhalten, wie wir’s gerade tun. Sie haben große Straßenpartys veranstaltet und sich gegenseitig die Autos repariert oder die Einkaufstüten getragen. Jetzt ist es immer dunkel, sogar bei Tageslicht – genau wie das Haus da drüben. Aber wisst ihr was? Sogar damals, als dieser Block noch ein angenehmer Ort zum Leben war, hat es schon wie eine Gewitterwolke über uns gehangen. Wir haben nicht darüber geredet, trotzdem wussten wir, dass es da ist. Lässt sich ja auch schwer übersehen. Damals haben wir darüber gemunkelt, wie’s die Menschen heute tun. Aber mehr nicht – nur gemunkelt. Wer weiß schon, was da drin vor sich geht? Was immer ihr glaubt, kann genauso richtig oder falsch sein wie das, was ich denke. Manche vermuten, dass es Drogendealer sind. Was ich persönlich für Quatsch halte. Können keine Drogendealer sein, denn diese Scheiße mit dem Haus ist schon lange gelaufen, bevor Drogen hier zum Problem geworden sind.«
»Was glauben Sie dann?«, wollte Leo wissen. »Was ist über die Jahre hinweg mit all den Leuten passiert?«
Perry zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht, und ich will’s auch gar nicht wissen. Ich kümmere mich um meinen eigenen Kram und erwarte von dem Haus dasselbe. Vielleicht scheren sich eines Tages ja doch noch die Behörden darum, oder es interessiert sich mal jemand dafür. Ich höre immer wieder, dass verschiedenste Typen alle zweitklassigen Immobilien in Philadelphia aufkaufen wollen, um von Stadterneuerungsprogrammen zu profitieren. Tja, bisher hat jedenfalls noch niemand an meine Tür geklopft und mir einen Arschvoll Geld angeboten. Kommt eventuell
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