Urban Gothic (German Edition)
sich unmöglich abschätzen, was für Infektionen er sich hier unten einfangen konnte. Dennoch marschierte er pflichtbewusst weiter, fest entschlossen, sich Zugang zu dem Haus zu verschaffen, nachdem er bereits so weit gekommen war. An seinen Füßen huschten Kakerlaken vorbei, wuselten über die gekrümmten Wände. In der Kanalisation herrschte Stille, und die Dunkelheit wirkte drückend. Paul umklammerte die Taschenlampe mit festem Griff, dankbar dafür, dass er sie mitgenommen hatte. Er wagte gar nicht, sich auszumalen, hier unten ohne Licht festzusitzen.
Paul schätzte, dass er etwa 30 Meter in gerader, horizontaler Linie zurückgelegt hatte, als er plötzlich an eine Art Kreuzung gelangte. Vor ihm teilte sich der Tunnel in drei Rohre, alle mit gleichem Durchmesser. Er leuchtete mit der Taschenlampe hin und her und schätzte seine Möglichkeiten ab. Ein Rohr schwenkte scharf nach rechts, ein anderes leicht nach links. Das in der Mitte verlief geradeaus weiter. Aus dem linken und rechten Rohr sickerte Wasser, das mittlere erwies sich dagegen als staubtrocken, abgesehen von einer winzigen Pfütze abgestandenen, schaumigen Wassers an der Öffnung. Kleine Insekten wanden sich darin. Paul vermutete, dass das mittlere Rohr die beste Chance bot, unter das Haus zu gelangen. Da kein Wasser floss, wurde es vermutlich nicht benutzt. Was durchaus Sinn ergab, wenn die Leitung an das leer stehende Haus angeschlossen war. Er beschloss, es damit zu versuchen, und ging geradeaus weiter.
Sofort wurde die Luft schlechter. Paul nahm das Ammoniakaroma von Urin und den beißenderen Gestank von Fäkalien wahr, doch da war noch etwas anderes. Etwas, das er nicht recht einordnen konnte. Es erinnerte ihn an die Fleischabteilung im Supermarkt, wenngleich er nicht wusste, weshalb. Pauls Körper verkrampfte sich angesichts des Gestanks. Tränen traten ihm in die Augen. Statt auf seine Schritte zu achten, leuchtete er mit dem Licht voraus und versuchte, die Quelle des widerwärtigen Geruchs zu entdecken. Seine Aufmerksamkeit blieb auf die Wände gerichtet. Nach nur wenigen weiteren Schritten verschwand der Boden.
Mit einem entsetzten Aufschrei stürzte Paul nach unten. Es gelang ihm, seine Taschenlampe festzuhalten, als er platschend in einem Tümpel kalter, schmieriger Flüssigkeit landete. Der Gestank wurde überwältigend. Japsend trat Paul mit den Füßen aus und versuchte verzweifelt, Halt zu finden. Stattdessen strampelten seine Füße durch Leere. Paddelnd hielt er sich über Wasser und sah sich erschrocken um. Dabei stellte er fest, dass die ekelerregende Flüssigkeit, was immer sie sein mochte, mehr einer Paste als Wasser ähnelte und sich anfühlte, als sei sie halb geronnen. Feste Brocken trieben darin, allerdings konnte er nicht ausmachen, worum es sich handelte. In dem Raum, in dem er sich befand, herrschte abgesehen vom aufwärtsgerichteten Strahl seiner Taschenlampe pechschwarze Finsternis. Er drehte die Lampe und schwenkte den Lichtkegel herum.
Paul schrie auf.
Er schwamm in einem toxischen, braunen, grauen und schwarzen Brei aus menschlichen Ausscheidungen, Toilettenpapier und ... noch etwas anderem. Paul fühlte sich wie benommen, als er erkannte, was der Rest sein musste. Menschliche Knochen – Schädel, Oberschenkel, Unterkiefer mit Zähnen, Schlüsselbeine, Rippen und gebrochene, unkenntliche Fragmente, allesamt von der zähen, stinkenden Flüssigkeit überzogen. Ein rascher Blick rings um den Tümpel bestätigte, dass er genug menschliche Gebeine enthielt, um daraus Dutzende, wenn nicht gar Hunderte Skelette zusammenzusetzen. Auch die Knochen von Tieren befanden sich darunter – Ratten, Vögel und andere Kreaturen der Stadt. Er sichtete sogar einige Schädel von Katzen und Hunden. Von welchen Tieren sie stammten, wusste er von mehreren Familienausflügen in naturhistorische Museen. Der aus dem Tümpel aufsteigende Gestank bestürmte seine Nase und drohte ihn zu überwältigen. Fuchtelnd streckte er die Arme nach oben. Graubrauner Matsch troff an ihnen herab und spritzte ihm ins Gesicht. Die abscheuliche Flüssigkeit besaß die Konsistenz von Sirup.
Trotz seines Grauens und seiner unvorstellbaren Abscheu fiel Paul ein Zeitungsartikel ein, den er vor Jahren gelesen hatte. Darin ging es um einen Ermittler irgendeiner Bundesbehörde ... ATF oder FBI, er konnte sich nicht genau erinnern. Jedenfalls hatte der Mann eine Gruppe einheimischer Terroristen in den abgelegenen Wäldern von West Virginia observiert.
Seine
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