Urban Gothic (German Edition)
diesen Freak für eine Frau, doch als er näher hinsah, stellte er fest, dass er es in Wirklichkeit mit einem Kerl zu tun hatte, der die gegerbte, konservierte Haut einer Frau trug. Wahrscheinlich derselbe Irre, dem Brett begegnet war, oder ein anderer mit demselben Fetisch. Der Mann schien älter als die weiblichen Kreaturen zu sein. Größer und mit breiten Schultern ausgestattet, die sich bei jeder kleinsten Bewegung deutlich durch den Hautanzug abzeichneten. Von Grauen erfüllt fragte sich Javier, wie er die schauerliche Aufmachung so hinbekommen hatte, dass sie dermaßen eng an seinem Körper anlag. Hauteng, dachte er und musste sich auf die Unterlippe beißen, um nicht aufzuschreien.
Javier musterte den Mann eingehender. Soweit er es erkennen konnte, trug er nicht ein Gramm Fett am Körper. Der Frauenanzug wölbte sich nicht durch einen Bierbauch oder üppigen Wanst. Javier hegte kaum Zweifel daran, dass die dicken Finger an den Händen des Mannes dazu in der Lage wären, sich mühelos durch die verdichtete Erde zu bohren. Die Länge der Fingernägel ließ darauf schließen, dass er sich damit auskannte, wie ein Maulwurf zu buddeln. Am meisten überraschte Javier, dass Bretts Gürtel von der geballten Faust des Kerls baumelte. Demnach handelte es sich um den Angreifer, der ihn Javier bei jenem ursprünglichen Kampf entrissen hatte!
Javier richtete die Aufmerksamkeit auf die Frauen. Bei dem Weib mit der Taschenlampe zeichneten sich am Rücken harte Muskelstränge ab. Ihre Finger jedoch wirkten durch dicke Klumpen gräulicher Wucherungen miteinander verwachsen, sodass es aussah, als trage sie an beiden Händen Baseballhandschuhe. Dieselbe überschüssige Haut bedeckte unter dem Schlamm den Rest ihres Körpers wie grässlich aufgedunsenes Narbengewebe, vom Gesicht bis zu den Beinen.
Die andere wirkte sehr jung, wahrscheinlich noch nicht einmal im Teenageralter. Wenngleich ihre Körperbehaarung ziemlich dünn und mit Matsch verkleistert war, zog sie sich über den gesamten Leib. Die Augen schienen zu groß für den Kopf zu sein, wie man es von japanischen Mangas kannte, allerdings wiesen sie nicht einmal dieselbe Symmetrie auf. Ein Auge glotzte oval, aber überdimensional, das andere vollkommen rund. Es quoll förmlich aus der Höhle hervor.
»Wir haben nichts gesehen, Scug«, nuschelte die Frau mit der Taschenlampe. Javier musste sich anstrengen, um sie zu verstehen. Die Stimme klang undeutlich und träge, als spreche sie mit Wattebäuschen im Mund. Der Mann – Scug – beugte sich vor und lauschte ihr aufmerksam. Javier fragte sich, ob das Narbengewebe auch auf ihrer Zunge oder am Gaumen wucherte.
»Ich habe nicht gefragt, ob ihr etwas gesehen habt«, erwiderte Scug, und Javier erkannte seine Stimme als jene wieder, die zuvor die beiden jungen Freaks gerügt hatte. »Ich will wissen, wo ihr gewesen seid.«
Sie schwenkte die Taschenlampe herum und Javier duckte sich, um nicht gesehen zu werden, als der Strahl über ihn hinwegstrich.
»Überall hier unten. Sie können nicht hier vorbeigekommen sein. Vielleicht hat Noigel ja schon alle erwischt.«
Scug seufzte und klang genervt. Er ergriff den Gürtel mit beiden Händen und ließ ihn schnalzen. Seine Begleiterinnen zuckten zusammen.
»Noigel kann nicht alle getötet haben. Denn als ich von Noigel weg bin, hat er noch mit dem gespielt, den er erledigt hat.«
Die Weibchen kicherten.
»Hatte er diese Sache mit seinem Ding gemacht?«, fragte die Narbengesichtige.
Scug nickte. »Ja. Er hat den Schädel des Kerls an der Wand gespalten und dann die Ritze gefickt. Keine Ahnung, wie er es schafft, sich nicht an den Knochensplittern zu schneiden. Die können ziemlich scharf sein. Aber er steht drauf. Vielleicht lässt er euch später den Hirnsaft von seinem Schwanz lecken.«
»M-m«, protestierte die Narbengesichtige mit geweiteten Augen. »Der ist zu groß für meinen Mund und letztes Mal haben mich dabei Flöhe ins Gesicht gezwickt. Er hat da unten eine ganze Horde davon.«
»Das sind Proteine. Du hättest sie dir einfach schnappen und essen sollen. Eventuell kriegst du ohnehin nichts anderes. Wertlos, wie du bist, hast du rein gar nichts getan, um dir das heutige Festmahl zu verdienen. Und so reiche Beute hatten wir schon lange nicht mehr.«
Die Narbengesichtige setzte eine Schmollmiene auf. »Sei nett zu uns, Scug. Immerhin bringe ich den Jungen das Reden bei.«
»Tja, klappt bloß nicht so richtig. Aber machen wir uns wieder an die Arbeit. Eine der
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