Urban Gothic (German Edition)
Hände hinabrann und von seinen Fingerspitzen tropfte.
Scug ließ den Gürtel von seiner Hand baumeln und schwang ihn vor Javiers Gesicht hin und her. »Hast du danach gesucht? Deine Freundin hat ihn später wiedererkannt.«
Javier konnte fühlen, wie die Adern hinter seiner Stirn und an seinem Hals pulsierten. »Was hast du mit ihr gemacht, du beschissene Missgeburt?«
»Keine Sorge«, verhöhnte ihn Scug. »Sie ist entkommen, nur wird sie nicht lange frei bleiben.«
»Der ist gefährlich«, merkte die Narbengesichtige an. »Wir müssen ihm die Zähne rausreißen. Sollen wirʼs gleich tun oder damit warten, bis wir zu Hause sind?«
Entsetzlicherweise musste Javier an einen alten Bugs-Bunny-Cartoon denken, den er als Kind gesehen hatte. Elmer Fudd machte wieder mal Jagd auf Bugs, aber der schlaue Hase konnte den glücklosen Jäger stattdessen überreden, auf Daffy Duck zu schießen. Beim anschließenden Wortwechsel fragte Bugs: »Willst du ihn gleich erschießen oder damit warten, bis du zu Hause bist?« Trotz seines Grauens, trotz seiner Schmerzen, trotz des Gefühls seines eigenen warmen Blutes, das wie Sirup über seine Handgelenke kroch, musste Javier angesichts der absurden Erinnerung grinsen.
»Wir warten«, entschied Scug. Er kletterte von Javier herunter und bedeutete seinen Begleiterinnen, dem Beispiel zu folgen. Von ihrer Last befreit, holte Javier tief Luft. Seine Brust bebte.
Scug schlug ihn erneut. »Auf die Beine. Lass es mich dir nicht zweimal sagen. Sonst schneide ich dir den Schwanz ab und stecke ihn dir in den Mund, um dieses dämliche Grinsen aus deinem Gesicht zu bekommen – ob du verblutest oder nicht. Ich wette, das wäre dein erster Kauriemen, was?«
Etwas im Tonfall des Mannes verriet Javier, dass er keineswegs übertrieb. Er würde genau das tun, was er androhte. Javier wusste nicht, was der bizarre Begriff ›Kauriemen‹ heißen sollte, aber der Rest der Absicht des Wahnsinnigen kam kristallklar zur Geltung. Stöhnend mühte sich Javier auf die Beine. Die Narbengesichtige und die Behaarte packten jeweils einen seiner Arme, dann ging Scug voraus und sie führten ihn in die Dunkelheit.
16
Leo und Dookie lehnten sich an die Tür, pressten die Ohren an das raue Holz und lauschten aufmerksam.
»Ich hör immer noch nichts«, sagte Dookie. »Alles mucksmäuschenstill. Wenn die da drin sind, dann reden sie nicht.«
Mr. Watkins nickte. »Ich wünschte nur, wir wüssten es mit Sicherheit, bevor wir die Tür eintreten. Ich hab euch Jungs nichts davon gesagt, aber vorhin, als ihr die Fenster überprüft habt, hatte ich das Gefühl, dass uns jemand durch den Spion beobachtet.«
»Haben Sie jemanden gesehen?«
»Nein, ich hab gar nichts gesehen. Es war mehr ein Eindruck. Ich hab gespürt, dass da jemand ist, versteht ihr?«
Kichernd stieß Markus seinem Freund Chris einen Ellenbogen in die Rippen und flüsterte: »Mr. Watkins hat übersinnliche Fähigkeiten. Yo, er ist die Gettoversion von Ghost Whisperer .«
»Halt die Klappe und zeig gefälligst etwas Respekt.« Leo bedachte sie beide mit einem finsteren Blick, dann widmete er die Aufmerksamkeit wieder dem älteren Mann. »Und was glauben Sie, wer es war?«
»Keine Ahnung«, erwiderte Mr. Watkins. »Das hab ich mich selbst schon gefragt. Wenn es die Kids gewesen sind, die ihr vorher so erschreckt habt, sollte man doch meinen, sie rufen um Hilfe, wenn sie uns sehen. Außer, sie haben vor euch noch mehr Angst als vor dem, was im Haus ist.«
»Falls überhaupt was im Haus ist«, murmelte Markus.
Mr. Watkins schwenkte den Arm in einer einladenden Geste. »Tja, dann komm mal hoch und leg los, Söhnchen. Du darfst als Erster durch die Tür gehen.«
»Kann ich nicht«, gab Markus zurück.
»Warum nicht?«
»Weil wir sie noch gar nicht aufbekommen haben.«
»Ich hab doch schon gesagt, darüber denke ich gerade nach.«
Markus grinste. »Für mich klingt’s eher, als ob Sie reden, statt nachzudenken. Vielleicht wollen Sie ja gar nicht rein. Vielleicht ist all das Gequatsche darüber, das Richtige zu tun, einander im Viertel zu helfen und etwas zu verändern, bloß gequirlte Scheiße.«
Leo trat mit geballten Fäusten auf seinen Freund zu. Wut durchströmte ihn. Er konnte nicht glauben, dass sich Markus derart respektlos verhielt. Sicher, Markus hatte schon immer ein Problem mit seiner Einstellung gehabt. Solange Leo ihn kannte, lief er streitsüchtig durchs Leben. Und ja, bis zu diesem Abend hatte sich Mr. Watkins immer wie ein
Weitere Kostenlose Bücher