Urbat - Der verlorene Bruder: Roman (German Edition)
es nicht kann, Gracie. Eine Nebenwirkung meiner schwindenden Kräfte.«
»Aber du bist immer noch stark. Du kannst …«
»Nein.« Daniel erwiderte endlich meinen Blick. »Aber du. Eines Tages, das verspreche ich dir. Du wirst es schon noch rauskriegen …«
»Ich habe das Gefühl, dass
eines Tages
einfach nicht rechtzeitig genug ist. Ich glaube, Jude hat mich angerufen, weil er meine Hilfe braucht.« Ich blickte auf meine albernen roten Hände, die sich weigerten, wieder normal zu werden. »Ich bin nicht stark genug, um irgendetwas zu tun.«
»Grace, du bist der stärkste Mensch, den ich kenne. Um mich zu retten, musstest du es sein. Du kannst die Heldin werden, die du sein willst.« Er senkte die Stimme und blickte zu Mom nebenan auf dem Sofa hinüber, als ober befürchtete, dass sie uns zuhörte. »Deine ganze Kraft ist zum Greifen nah. Gemeinsam werden wir schon noch herausfinden, wie du sie packen und festhalten kannst. Du brauchst nur etwas mehr Zeit, Geduld und Balance. Dann wird es funktionieren. Vielleicht haben wir zu Beginn zu sehr darauf gedrängt. Vielleicht müssen wir es ruhiger angehen. Und uns mehr Zeit für dein Training nehmen …«
»Aber was ist, wenn wir nicht mehr Zeit haben? Was ist, wenn Jude recht hat? Wenn tatsächlich jemand hinter uns her ist?« Zum ersten Mal spürte ich wirklich die Gefahr – wie ein Gewicht, das mich hinunterzuziehen versuchte. »Was ist, wenn ich meine Kräfte jetzt brauche?«
Frustriert griff Daniel nach einer Strähne seines struppigen Haars und zog daran. »Ich weiß nicht, was du gern von mir hören möchtest, Grace. Was sollte ich deiner Meinung nach tun? Ich werde dich auf keinen Fall noch schneller trainieren. Du weißt genau, dass das nicht sicher wäre. Ich werde nicht zulassen, dass du dich an den Wolf verlierst.«
»Ich werde mich nicht an den Wolf verlieren, Daniel. Das will ich doch überhaupt nicht … Ach, ich weiß selbst nicht, was ich will! Vielleicht eine Möglichkeit, die Zeit anzuhalten. Eine magische Methode, meine Kräfte schneller freizusetzen. Ich weiß es nicht.«
»Ich auch nicht.« Daniel nahm eine Schale von der Arbeitsplatte und stellte sie gleich wieder zurück. »Ich glaube immer noch, dass Jude dir nur einen Schrecken einjagen wollte, Grace. Wahrscheinlich ist es für den Wolf der totale Kick, wenn er Menschen quält, die er mal
liebte
.« Er betonte die Vergangenheitsform extra deutlich.
Doch ich wollte das nicht akzeptieren. Daniel hatte mich auch geliebt, als er vom Wolf gesteuert wurde. Trotz allem hatte er nach einem Weg gesucht, um zu unserer Familie zurückzukommen. Dasselbe wollte ich jetzt im Hinblick auf Jude glauben. Ich musste ihm dieselbe Möglichkeit einräumen – in dubio pro reo. Im Zweifel für den Angeklagten. Tief in mir wollte ich glauben, dass er mich nicht aus einer kranken Laune heraus angerufen hatte, sondern weil er mich warnen musste. Er wollte noch immer mein Bruder sein.
»Du hast nicht gehört, wie besorgt seine Stimme geklungen hat«, sagte ich. »Ich glaube, es war ein Hilferuf.«
Daniel schüttelte den Kopf. »Ich wünschte, ich könnte ihn für dich finden. Aus ihm herauskriegen, was er verdammt noch mal will. Oder diese Person stoppen, die angeblich hinter uns her ist. Aber ich bin nicht derjenige mit den Superkräften.«
»Ich anscheinend auch nicht«, grummelte ich.
Er sah mich an, seine dunklen Augen waren von Traurigkeit überschattet, doch er sagte nichts. Für ein paar lange Minuten schwiegen wir beide. Mom guckte mittlerweile eine auf Video aufgenommene Nachrichtensendung eines anderen Kanals. Es war fast die identische Wiederholung der Sendung davor. Unsichtbare Räuber. Schreckliche Verbrechen mitten am Tag. Selbst ein ähnlicher Witz über das Markham Street Monster und die organisierte Kriminalität.
»Bereust du es?«, fragte ich Daniel schließlich. Es war eine Frage, die ich seit Monaten unterdrückt hatte. EineFrage, die jedes Mal hochkam, wenn ich sah, wie Daniel sich abmühte, um beim Laufen mit mir Schritt zu halten, oder wenn ich nach unseren Trainingsrunden sein verletztes Knie versorgte. »Bereust du, dass ich dich geheilt habe? Es muss schlimm sein, dass du deine Kräfte nicht mehr hast.« Genauso schlimm wie zu sehen, dass ich meine nicht in den Griff bekam. So, wie ich mich immer abgemüht hatte, wenn er mir eine neue Maltechnik beibrachte, und ich spüren konnte, dass es ihm in den Fingern juckte, einfach den Pinsel zu nehmen und es selbst zu machen – was er
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