Urbat - Der verlorene Bruder: Roman (German Edition)
Spekulationen nachging – diesmal der Angriff eines Bären im Yellowstone Nationalpark, bei dem ein dunkelhaariger Junge anscheinend ein junges Mädchen vor dem Tod gerettet hatte – war ich wütend geworden. Ich hatte mich mit verschränkten Armen in der Tür aufgebaut und wollte Dad nicht gehen lassen. Er hatte meine Hand genommen und sich neben mich auf die Veranda gesetzt. »Du kennst doch die ›Geschichte vom Guten Hirten‹, nicht wahr, Grace?«
Obwohl ich sie kannte, schüttelte ich den Kopf. Ich war viel zu aufgeregt zum Sprechen.
»Die Bibel sagt, dass ein guter Hirte, selbst wenn er hundert Schafe hat und nur eines von ihnen in der Wildnis verliert, die anderen neunundneunzig zurücklassen und nach dem einen suchen muss.«
»Aber bedeutet das denn nicht, dass er eigentlich die restlichen Schafe den Wölfen überlässt?«
Dad seufzte. »Das ist genau das, was ich für Daniel getan habe – ich habe ihm geholfen, unter welchen Umständen auch immer. Es ist genau das, was du für Daniel getan hast. Und jetzt schulden wir deinem Bruder dasselbe.«
Dagegen hatte ich nichts mehr sagen können.
Dad drückte meine Hand. »Außerdem lasse ich denRest der Familie in fähigen Händen.« Dann war er aufgestanden und gegangen.
Allerdings fühlte ich mich momentan nicht besonders fähig. Ich meine, was sollte ich tun, wenn das verlorene Schaf zu uns zurückkam, aber der Gute Hirte nicht da war? Und was wäre, wenn das Schaf gar keines war?
Wenn es sich um den Wolf handelte?
Später
Ich hatte den Abwasch fast beendet, als Daniel in die Küche kam. »James hat sich endlich beruhigt.« Er streichelte meinen Arm, nahm sich dann ein Geschirrtuch und trocknete den Saucentopf ab.
»Danke«, sagte ich und reichte ihm eine frisch gespülte Tasse.
Er runzelte die Stirn, als er meine gerötete Haut sah. »Du solltest besser auf dich aufpassen.«
Ich blickte auf meine Hand, schloss die Augen und konzentrierte mich darauf, den Schmerz auszulöschen. Ich wartete ein paar Sekunden, doch als ich die Augen wieder öffnete, war die Haut noch genauso rot und empfindlich wie zuvor. Ich war nicht überrascht.
»Ich sollte Mom ins Bett bringen«, meinte ich und trocknete mir die Hände an meiner Hose ab.
»Möchtest du, dass ich hierbleibe? Nur für den Fall, dass Jude … zurückkommt. Ich kann auf dem Sofa schlafen.«
So sehr ich den Gedanken mochte, dass Daniel die Nacht hier verbrachte – es wäre fast so, als ob Dad da wäre –, wusste ich, dass es nicht möglich war. »Das wäre wohl etwas zu viel für meine Mom.«
»Hmm. Du hast wohl recht.«
»Andererseits ist es vielleicht gar keine schlechte Idee. Wenn man eine Reaktion bei ihr hervorrufen könnte, wäre es das Risiko wert.« Ich war sehr froh, dass Mom mir keinen Hausarrest verpasst hatte, weil ich erst nach den Zehn-Uhr-Nachrichten nach Hause gekommen war. Doch so sehr ich es auch hasste, dass Mom jeden meiner Schritte überwachte, wenn sie sich in ihrer durchgedrehten Mama-Bär-Manie befand, war dies dem Zombie-Zustand, in dem sie nun gerade verweilte, immer noch vorzuziehen.
Daniels schelmisches Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit. Zärtlich legte er meine Hand in seine und führte sie an seine Lippen. Der Ausdruck in seinen Augen, während er meine geröteten Knöchel küsste, ließ meine Knie weich werden. Für einen Moment wünschte ich, wir lägen noch immer zusammen im Gras.
»Keine gute Idee«, flüsterte ich und entzog ihm meine Hand. Wenn Mom wieder zu Sinnen käme, würde ich für den Rest meines Lebens Hausarrest bekommen.
»Wie Sie wünschen, Ma’am«, sagte Daniel und nahm eine weitere Tasse zum Abtrocknen. »Ich helfe dir noch mit dem Rest hier, bevor ich gehe.«
Ich seufzte. Ich wusste, dass sich das Haus kalt und leer anfühlen würde, sobald er gegangen war. Jedes Geräusch würde mich hochschrecken lassen. Jede Minute würdesich wie ein Jahr anfühlen, bevor ich endlich einschlafen könnte. »Ich wünschte, dass wenigstens mein Dad hier wäre … Andererseits glaube ich auch nicht, dass er uns beschützen könnte.«
Daniel runzelte die Stirn und stellte die Tasse ab. Dann verlagerte er das Gewicht von dem verletzten Bein auf das gesunde.
Eine Woge schlechten Gewissens überspülte mich. »Ich meinte nicht dich.« Ich legte eine Hand auf seine Schulter. »Ich wollte damit nicht sagen, dass du uns nicht mehr beschützen kannst. Ich hab mehr von mir selbst gesprochen, ehrlich.«
»Ist schon in Ordnung. Ich weiß, dass ich
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