Urbat - Der verlorene Bruder: Roman (German Edition)
Sekunden war ich um das Haus herumgelaufen und stürmte die Betonstufen hinunter, die zu seiner Wohnung führten.
Die alte gelbe Tür stand halb offen. Meine Handflächen wurden plötzlich feucht. Normalerweise achtete Daniel sehr darauf, dass seine Tür verschlossen war. Die Angeln quietschten, als ich die Tür etwas weiter aufstieß.
»Jude?«, rief ich in die kleine Wohnung hinein. Das Handy hatte zu klingeln aufgehört und die Wohnung war dunkel. Ich konnte ein Paar von Daniels Chucks neben einem unordentlichen Haufen schmutziger Wäsche auf dem Boden erkennen. Das Bettsofa war ausgeklappt, doch die Bettdecke fehlte und die dünne Matratze war nur halbwegs von den Laken bedeckt.
»Grace, warte mal.« Daniel erschien oben an der Treppe. »Vielleicht ist das am Telefon gar nicht dein Bruder gewesen.«
»Er war es. Ich würde seine Stimme
immer
wiedererkennen.«Es war mir, unter Androhung der Todesstrafe, von meinem Vater verboten worden, Daniels Wohnung in seinem Beisein zu betreten. Ich machte trotzdem einen Schritt in das Apartment hinein. »Jude, bist du hier?«
»Das hab ich nicht gemeint.« Daniel hinkte die Stufen herunter. »Ich meinte, dass Jude vielleicht nicht dein Bruder war, als er angerufen hat. Vielleicht stand er unter dem Einfluss des Wolfs.«
Wieder einmal hatte Daniel nicht ganz unrecht. Ich zitterte bei dem Gedanken an die Dinge, die Jude bereits zuvor unter dem Einfluss des Wolfs getan hatte. Wie um die Erinnerungen zu unterstreichen, zwickte die halbmondförmige Narbe an meinem Arm. Dennoch, wenn Jude hier war, musste ich es wissen. Mein Herz schlug schneller, als ich die Wohnung betrat.
»Jude?« Ich drückte ein paarmal auf den Lichtschalter. Nichts geschah.
Meine Schritte passten sich meinem Herzschlag an, während ich weiter in den dunklen Raum hineinging. Eine düstere Vorahnung bemächtigte sich meiner Muskeln und prickelnder Schmerz durchfuhr meine Sehnen. Mein Körper schien sich auf etwas vorzubereiten. Flucht oder Kampf.
Ich trat neben das Sofa und suchte zwischen den zerknitterten Laken nach dem Handy, das Daniel angeblich hier liegen gelassen hatte. Daniel öffnete währenddessen die Tür zum Badezimmer und inspizierte vorsichtig den kleinen Raum. Ich hörte, wie er das Spiegelschränkchen auf- und zumachte, dann das Rascheln des Duschvorhangs.
Der kribbelnde Schmerz breitete sich bis zu meinen Fingerspitzen aus und ich verkrampfte die Hand um mein Telefon. Dann drückte ich noch mal die Wiederholungstaste. Ich konnte das Klingeln in meinem Handy hören, bevor der metallene Ton von Daniels Telefon einsetzte. Das Geräusch war erst leise, klang aber dann lauter und näher.
Instinktiv wirbelte mein Körper zu dem Klingelton herum. Ich fand mich in geduckter Stellung wieder, bereit zum Angriff. Ein leises Knurren entfuhr meinen Lippen.
»Wow, Gracie!« Daniel stand vor mir. Er hatte die Hände zur Verteidigung hochgehoben. Mit einer Hand hielt er sein Handy umklammert. »Ich bin’s nur. Ich hab mein Handy in der Dusche gefunden.«
Ich stürzte nach vorn und schlang meine Arme um ihn. »Heilige Sch…, ich dachte du wärst … du wärst …« Ich versuchte zu Atem zu kommen, presste den Mondsteinanhänger gegen meine Brust und ließ die Angst langsam aus meinem Körper hinausfließen. Ich weiß nicht, was ich hinter mir erwartet hatte. Einen Werwolf mit einem Handy zwischen den Klauen? Plötzlich kam ich mir ziemlich albern vor.
»Schon in Ordnung.« Daniel strich mit den Fingern durch mein Haar. »Es ist niemand hier.«
»Aber irgendjemand
war
hier«, erwiderte ich. »Falls du nicht die Angewohnheit hast, unter der Dusche zu telefonieren.«
»Versuch, deine Kräfte zu benutzen. Sie können dir sagen, ob es Jude war«, sagte Daniel. »Setz deine Sinne ein, so wie ich es dir gezeigt habe.«
Ich hatte zwar nicht viel Hoffnung, dass es funktionierte, doch ich nahm einen tiefen Atemzug, behielt die Luft hinten in der Kehle und versuchte, sie in meine Sinne eindringen zu lassen, so wie es mir Daniel in den letzten Monaten bestimmt zwei Dutzend Male gezeigt hatte. Ich musste die Luft auf Spuren meines Bruders überprüfen und neben Daniels Mandelduft und dem scharfen Geruch nach Ölfarbe, der seine Wohnung immer durchdrang, einen bekannten Duft oder Geschmack herausfiltern.
Mit einem langen, frustrierten Hauch atmete ich schließlich aus. Daniel blickte mich voller Hoffnung an. Ich schüttelte den Kopf. Wieder einmal hatte ich versagt.
»Das ist in Ordnung«, meinte
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