Urbat - Der verlorene Bruder: Roman (German Edition)
Daniel. »Es wird schon noch kommen. Es braucht bloß Zeit.« Das sagte er immer.
»Ja, ich weiß.« Ich hoffte, dass er nun nicht wieder davon anfangen würde, wie viel Balance vonnöten war, wie gut ich es bis jetzt schon machte und wie viele Jahre die meisten Urbats brauchten, um ihre Fähigkeiten zu entwickeln. »Ich kann mich übrigens gar nicht mehr erinnern, wie mein Bruder riecht. Und geschmeckt hab ich ihn ganz sicher noch nie.«
Daniel lächelte. Vortrag abgewendet.
Ich nahm sein Handy und suchte es mit meinen menschlichen Augen nach Spuren ab. Das Gehäuse war zersprungen, als wäre das Handy hingefallen. Ich war überrascht, dass es überhaupt noch funktionierte. Ich überprüfte Zeit und Telefonnummer des letzten Anrufs, der von diesem Telefon gemacht worden war. »Er hat mich definitiv vondiesem Handy angerufen.« Ich schauderte. »Er war hier drinnen, während wir draußen waren.«
»Was hat er gesagt?«, fragte Daniel.
»Er sagte, ich sei in Gefahr. Dass wir alle in Gefahr seien. Er sagte, dass ›sie hinter mir her seien‹ und dass ich sie nicht aufhalten könne. Und dann sagte er noch, dass ich jemandem nicht trauen könne …« Ich biss mir auf die Lippe. »Ich weiß nicht, aber ich glaube, er meinte dich.«
Daniel verschränkte die Arme vor der Brust. »Klingt, als hätten sich seine Gefühle mir gegenüber nicht verändert.« Ein sorgenvoller Ausdruck trat in seine dunklen braunen Augen.
Ich fragte mich, ob er das Gleiche dachte wie ich – dass Jude vielleicht andere Absichten verfolgt hatte, als er in die Wohnung eingebrochen war. Hatte Jude angenommen, dass Daniel allein hier war? Allein und wehrlos? Das ergab keinen Sinn. Wenn er Daniel hätte angreifen wollen, hätte ihn meine Anwesenheit sicher nicht daran gehindert. Das hatte es schon früher nicht.
»Hat er noch etwas anderes gesagt?«, fragte Daniel.
»Nein. Die Verbindung brach ab. Ich glaube, er hat das Handy fallen gelassen. Er schien nervös. Vielleicht hat seine Hand gezittert.« Oder vielleicht war er gerade die Wandlung durchlaufen.
»Glaubst du, dass er dir nur Angst einjagen wollte?«, mutmaßte Daniel. »Vielleicht ist das ja nur so ein krankes Spiel. Er wollte nie, dass wir zusammen sind.«
»Ich weiß nicht.« Ich blickte auf das Handy in meiner Hand. »Das ist möglich. Aber es ergibt doch keinen Sinn,dass er hierherkommt, nur um einen blöden Witz zu machen. Ich glaube, da steckt etwas anderes dahinter.«
Vielleicht lag es an meinen neuen Wolfsinstinkten oder es gab so eine Art geschwisterlicher Verbindung, aber irgendetwas tief in meinem Innern sagte mir, dass Jude recht hatte. Wir waren alle in Gefahr.
Ich wusste nur nicht, ob die Gefahr von ihm ausging.
KAPITEL 2
In dubio pro reo
Zu Hause, zwanzig Minuten später
Daniel bestand darauf, mir auf seinem – für ihn – neuen Motorrad nach Hause zu folgen. Langsam legte ich die wenigen Meilen zwischen unserem Haus und Oak Park zurück und behielt beim Fahren die Straßen im Auge. Ich bremste jedes Mal ab, wenn ein Fußgänger vorbeikam. Das geschah nicht oft, da es schon nach zehn Uhr war.
Wieder und wieder rief ich Dads Handy an, doch jedes Mal ging sofort die Mailbox an. Welchen Sinn hatte es eigentlich, dass er uns allen Mobiltelefone gekauft hatte, damit wir in Verbindung bleiben konnten, er aber ständig vergaß, seins aufzuladen? ›Ruf mich zurück‹, lautete die Nachricht, die ich immer wieder hinterließ. Angesichts der Energie, die er in den letzten Monaten in die Suche nach Jude gesteckt hatte, wollte ich Dad nicht einfach per Mailbox über das Wiederauftauchen meines Bruders informieren. Das ist eine Neuigkeit, die du jemandem persönlich überbringen musst. Am besten, wenn er oder sie direkt vor dir steht – oder, besser noch, sitzt.
›Chaos‹ ist das einzige Wort, das die Szene hätte beschreiben können, die sich mir beim Öffnen der Haustür bot: Die Zehn-Uhr-Nachrichten schallten mir aus dem Wohnzimmer entgegen, als hätte jemand die Lautstärke voll aufgedreht, um den Nachrichtensprecher bei demGeheul von James, der in Charitys Armen auf der Treppe um seine Freiheit kämpfte, noch verstehen zu können. Es sah aus, als hätte sie gerade versucht, ihn ins Bett zu verfrachten. Der Kleine ruderte derart mit den Armen, dass nun beide die Treppe herunterzufallen drohten.
Die vibrierenden Töne verstärkten sich plötzlich in meinem Kopf um das Zehnfache. Ich zuckte zusammen und bedeckte meine Ohren mit den Händen. Perfekter
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