Urbat: Die dunkle GabeRoman (German Edition)
Boden hinuntergleiten und legte mich neben seine pelzige Gestalt.
Wieso wurde er nicht wieder menschlich? Hatte ich versagt? Hatte ich zu lange gezögert? Hatte ich es nicht geschafft, seine Seele zu retten, bevor …? Hatte ich mich selbst ganz umsonst hingegeben?
Ein kalter Wind blies über mich hinweg. Schneeflocken wirbelten um uns herum. Eine landete auf der Nase des Wolfs und zerschmolz. Wann hatte es zu schneien angefangen, fragte ich mich, als ich meinen Kopf auf Daniels blutbefleckte Brust legte. Ich lauschte einem einzelnen Herzschlag, der schwächer und schwächer wurde, bis er verschwand. Ich wartete auf meinen eigenen Wolf – wartete, dass der Wolf käme und mich für das verschlang, was ich getan hatte.
KAPITEL 28
Erlösung
Im Altarraum
Irgendwo neben mir ertönte ein Aufschrei. Ich sah auf und entdeckte April, die in ihrem rosafarbenen Kleid zitternd an der geöffneten Kirchentür stand. Hinter ihr wehte der Schnee herein.
»Was ist pa…«
»Stell keine Fragen«, murmelte ich und setzte mich auf. »Bitte geh und ruf einen Notarztwagen.«
Ich sah zu dem Daniel-Wolf. Er lag viel zu still und leblos da. Der silberne Dolch ragte aus seiner Brust. Vielleicht hatte ich ihn nicht fest genug hineingestoßen? Vielleicht hatte ich sein Herz nicht durchbohrt? Vielleicht musste ich das Messer aber auch herausziehen. In dem Buch hatte es geheißen, Silber habe eine giftige Wirkung.
Behutsam legte ich meine Hand um den Schaft. Er brannte nicht auf meiner Haut.
»Was machst du da, um Himmels willen?«, Aprils Stimme war schrill. Sie stand immer noch an der Tür.
»Geh. Bitte hol Hilfe.«
Ich umfasste den Dolch ganz fest und zog daran mit aller Macht. Die Klinge glitt mit einem widerwärtig saugenden Geräusch heraus. Aus der Wunde spritzte Blut und verteilte sich über Daniels Brust, tränkte den weißenFlecken seines Fells. Doch anstatt weiter herauszusickern, hörte es plötzlich auf. Das Blut stockte und floss dann zurück in die Wunde. Der Einstich verwandelte sich in Schorf und verheilte dann zu weißem Fleisch.
Weiße Haut, die mit dem Rest seines Körpers übereinstimmte – seinem menschlichen Körper. Jetzt war Daniel wieder bei mir, und nicht mehr das pelzige Biest. Einem kleinen, zusammengekrümmten Häufchen ähnelnd lag er auf der Seite, so als wäre er gerade eben wiedergeboren. Sein nackter Körper war an verschiedenen Stellen, besonders am Hals, aufgerissen und blutig. Doch er war menschlich – sterblich. Ich hatte seine Seele gerettet, bevor er gestorben war. Das war das Einzige, worauf es ankam, dachte ich … bis er zu husten anfing.
»Grace«, krächzte er.
Ich ließ meine Hand an seinem Arm hinuntergleiten und verschränkte meine Finger mit seinen. »Ich bin hier«, sagte ich. »Ich bin hier.«
»Ähm …«, ließ April mehr als nur ein bisschen schockiert hören. »Ich glaube, ich hole jetzt mal Hilfe.«
Als sie ging, ergoss sich das Mondlicht von der Tür in den Raum und bedeckte Daniel mit seiner geisterhaften Blässe. Sein Haar wirkte fast weiß.
»Daniel, es tut mir so leid!« Ich legte meine Hände um sein Gesicht. »Aber komm bloß nicht auf die Idee, mir jetzt hier wegzusterben.«
Das ironische Lächeln überzog wieder sein Gesicht, und er öffnete die Augen. Sie waren dunkel wie Schlammtörtchen und so vertraut wie nie zuvor. »Schon wieder amRumkommandieren«, erwiderte er leise. Dann hustete er und schloss wieder die Augen.
»Ich werde dich immer lieben«, flüsterte ich. Ich küsste seine kalten Lippen und hielt seinen Kopf, bis ich die Sirenen hörte und jemand mich von ihm wegzog.
Leben, wie ich es kenne
Es schneite ohne Unterbrechung sieben Tage lang. Nach dem ersten Tag entließ die Polizei Jude und mich in die Obhut unserer Eltern. Sie hatten keine Zeugen gefunden, die uns als diejenigen identifizieren konnten, die von der Schule weggerannt waren. Und da sich keiner von uns daran zu ›erinnern‹ schien, was genau passiert war, konnten sie angesichts der Umstände nur feststellen, dass wir von einem Rudel wilder Hunde angegriffen worden waren – demselben imaginären Rudel, das sie auch für das verantwortlich machten, was mit Maryanne und Jessica geschehen war – und dass wir uns in der Pfarrkirche in Sicherheit gebracht hatten.
Daniels Verletzungen entsprachen einer Wolfsattacke. Niemand konnte allerdings erklären, wieso er nackt war.
Jude und ich sahen am nächsten Morgen völlig unberührt aus. Meine blauen Flecken waren
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