Urbat: Die dunkle GabeRoman (German Edition)
verschwunden, und die Bisswunde an meinem Arm war zu einer rosigen, halbmondförmigen Narbe verheilt.
Jude war körperlich ebenfalls unversehrt. Doch der Arzt stellte fest, dass er an einer Art posttraumatischemStresssyndrom litt und verschrieb ihm ein starkes Beruhigungsmittel, nachdem er einen heftigen Wutausbruch hatte, als mein Vater am frühen Morgen vom Flughafen zurückkam. Erst jetzt wurde mir klar, dass sich Daniel, als er erst einmal zu einem Werwolf geworden war, wahrscheinlich nur deswegen von unserer Familie ferngehalten hatte, weil er all diese Drogen hatte nehmen müssen.
Meine vorgetäuschte Amnesie geriet nur bei den Geschehnissen in der Gasse ein wenig ins Stocken. Rein strategisch erinnerte ich mich daran, wie Pete mich angegriffen und Don mich gerettet hatte. Nachdem Pete aus der Gasse herausgestolpert war und mich allein zurückgelassen hatte, war er selbst zur Polizei gegangen, doch angesichts seiner dreizehn Stichwunden hatten sie beschlossen, ihn für weitere Befragungen dazubehalten. Ich hatte ihm verziehen, was er mir angetan hatte. Das bedeutete allerdings nicht, dass seine Taten keine Konsequenzen haben würden.
Den zweiten und dritten Tag verbrachte ich im Krankenhaus und tigerte auf der Intensivstation über den Gang vor Daniels Zimmer, bis mir die Krankenschwestern befahlen zu verschwinden. »Geh nach Hause, Kind«, sagten sie. »Ruh dich etwas aus. Wir rufen an, wenn sich etwas Neues ergibt.«
Am vierten Tag zahlten sich die Telefongespräche meines Vaters schließlich aus und wir erfuhren, was mit Don Mooney passiert war. Er war auf einer Parkbank naheeiner Busstation in Manhattan gefunden worden. Die Polizei sagte, sein Herz habe einfach aufgehört zu schlagen. Er hatte weder Geld noch Ausweis bei sich, und seinem Aussehen nach zu urteilen dachten sie, er sei obdachlos. Don wurde also zwei Tage vor Weihnachten drei Meter tief in einer Grube beerdigt, an einem Ort namens Potter’s Field.
Am fünften Tag ging ich zurück zum Krankenhaus. Den ganzen Weihnachtsabend stand ich vor dem Glasfenster und betete. Später am Abend kam Dad vorbei, um mich abzuholen. »Der Sturm wird heftiger«, sagte er. »Deine Mutter möchte nicht, dass du hier eingeschneit wirst.«
Am sechsten Tag war Weihnachten. Niemand war in Festlaune, außer James, der fröhlich mit Glitzerfolie und Geschenkbändern spielte. Meine Eltern schenkten mir ein Handy.
Dad gab Jude einen goldenen Ring, in den ein großer, schwarzer Stein eingefasst war. »Er ist gestern Abend gekommen«, sagte er. »Es tut mir leid. Ich habe versucht, ihn früher zu bekommen.« Dad knüllte das Geschenkpapier zusammen. »Ich dachte, ich müsse abwarten, bis ich ihn hätte … es tut mir leid.«
»Was ist das für ein Ring?«, fragte Charity.
»Ein Examensring«, sagte ich.
Judes Augen wirkten ruhiggestellt, wie aus Glas. Er sprach nicht. Seit fast einer Woche hatte er nicht ein einziges Wort gesagt.
Später am Abend klingelte das Telefon. Ich hörte einen Moment lang zu, bis die Stimme der Krankenschwester am anderen Ende der Leitung sagte: »Er ist gegangen. Wir konnten nichts tun, um ihn aufzuhalten.«
Ich ließ den Hörer fallen, ließ ihn einfach an der Schnur hin und her baumeln und lief in mein Zimmer.
Früh am Morgen des siebten Tages wachte ich an meinem Schreibtisch mit einem Pinsel in den Händen auf. In der Schachtel, die Daniel in meinem Zimmer gelassen hatte, war noch eine weitere Nachricht gewesen. Er hatte mir die Anleitungen aufgeschrieben, wie ich meine Ölbilder mit Leinöl und Firnis bearbeiten konnte. Ich war am Schreibtisch eingeschlafen, während ich das Bild von Jude als Angler am Teich von Opa Kramer für mein Portfolio fertig stellte.
Ich war durch die Helligkeit erwacht, die durch mein Fenster hereinschien. Ich lugte durch die Jalousien. Das frühmorgendliche Licht des Mondes wurde von den fünfzehn Zentimetern Schnee reflektiert, die über Nacht gefallen waren. Es sah jetzt draußen so anders aus als noch vor ein paar Tagen. Der stumpfe braune Rasen, die vermodernden Blättern in der Dachrinne, die Häuser der Nachbarn und der geisterhafte Walnussbaum – sie alle waren von einer dicken Schicht puren, weißen, unberührten Schnees überzogen. Noch waren keine Autos oder Schneepflüge auf der Straße, um Matsch in die Rinnsteine zu spritzen oder dieses perfekten Bild durch schwarze Streifen zu verunstalten. Es sah aus, als wäre jemand miteinem Pinsel gekommen und hätte die ganze
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