Urbat: Die dunkle GabeRoman (German Edition)
oberste Richter darüber, was wirklich in unseren Seelen ruht. Doch
wir
sind aufgefordert, allen zu vergeben.«
Mein Vater hatte die Unterhaltung an dieser Stelle beendet. Um ehrlich zu sein, war ich verwirrter als zuvor gewesen. Was war, wenn die Person, die dich verletzt hatte, gar keine Vergebung verdiente? Was war, wenn das, was sie getan hatte, so schlimm war …
Knirsch. Knirsch .
Da war wieder der aufgewirbelte Kies. Jetzt auf beiden Seiten des Wagens?! Ich verstärkte den Griff um den Hockeyschläger. »Pete?« Keine Antwort.
Schepper. Schepper .
Der Türgriff? Die Furcht schoss mir wie ein elektrischer Schlag durch die Wirbelsäule und von dort in beide Arme. Mein Herz klopfte hämmernd in der Brust, meine Lungen schmerzten mit jedem heftigen Atemzug. Ich blickte ängstlich aus dem Fenster. Warum konnte ich nichts sehen?
Schepper. Schepper . Schepper .
Das Auto bewegte sich ruckartig. Ich schrie auf. Ein schrilles, stechendes Geräusch kam von außerhalb des Wagens. Die Fenster stöhnten und kreischten, als würden sie jeden Moment zerbersten. Ich presste mir die Hände auf die Ohren und schrie lauter. Das Geräusch erstarb. Irgendetwas klirrte neben meiner Tür auf den Asphalt. Mein Puls dröhnte in den Ohren – es klang wie rennende Schritte.
Stille.
Jeder Nerv zuckte unter meiner Haut. Ich rutschte auf dem Sitz hin und her und hörte wieder das Scheppern. Doch diesmal war es nur mein zitterndes Knie, das gegen die im Zündschloss baumelnden Schlüssel stieß. Ich lachte kurz erleichtert auf und schloss die Augen.
Mit angehaltenem Atem wartete ich und horchte in die Stille. Dann atmete ich mit einem langen Seufzer aus und lockerte den Griff um den Hockeyschläger.
Klopf. Klopf . Klopf .
Ich riss die Augen auf. Mein Arm schnellte nach oben. Ich knallte mir den Schläger vor den Kopf.
Ein halb im Schatten liegendes Gesicht starrte durch die beschlagenen Scheiben.
»Mach die Motorhaube auf«, sagte eine gedämpfte Stimme. Es war nicht Pete.
»Verzieh dich!«, schrie ich und versuchte, meiner Stimme einen barschen Klang zu verleihen.
»Mach schon«, sagte er. »Alles in Ordnung, Gracie. Versprochen.«
Ich hielt mir die Hand vor den Mund. Ich kannte diese Stimme. Ich kannte dieses Gesicht. Bevor ich auch nur etwas dagegen tun konnte, hörte ich mich sagen: »Okay.« Ich entriegelte die Motorhaube.
Seine Schritte schlurften über den frostigen Gehsteig, während er zur Vorderseite des Wagens ging. Ich öffnete die Tür und sah ein Stemmeisen zu meinen Füßen liegen. Es kribbelte in meinem Rückgrat, als ich darüber hinwegstieg und Daniel folgte. Sein Kopf und seine Schulternverschwanden unter der Motorhaube, doch ich konnte dieselbe zerschlissene Jeans und das T-Shirt von gestern erkennen. Besaß er überhaupt noch andere Klamotten?
»Was machst du da?«, fragte ich.
»Wonach sieht es wohl aus?« Daniel drehte am Verschluss irgendeines Motorteils und zog einen öligen Metallstab heraus. »Du triffst dich also mit diesem Bradshaw?« Er schraubte die Kappe wieder an.
Er war so nüchtern bei der Sache, dass ich mich fragte, ob ich das ganze Spektakel nur geträumt hatte. War ich vielleicht eingeschlafen, während ich auf Pete gewartet hatte? Doch dieses Stemmeisen hatte da vorher nicht gelegen. »Was ist denn hier eben passiert?«, fragte ich. »Hast du was gesehen?«
»Du hast meine Frage nicht beantwortet.«
»Und du antwortest mir nicht.« Ich trat einen Schritt auf ihn zu. »Hast du gesehen, was passiert ist?«
Hatte er verhindert, was hier gerade beinahe passiert war?
»Kann schon sein.«
Ich duckte mich unter die Motorhaube, um ihn besser sehen zu können. »Erzähl’s mir!«
Daniel wischte sich die ölverschmierten Finger an der Hose ab. »Nur ein paar Kids, die ’n bisschen rumgespielt haben.«
»Mit einem Stemmeisen?«
»Ja. Ist gerade in Mode.«
»Erwartest du, dass ich dir das glaube?«
Daniel zuckte mit den Schultern. »Du kannst glauben,was immer du willst, aber das war alles, was ich gesehen habe.« Dann fummelte er wieder am Motor herum. »Jetzt bist du an der Reihe«, sagte er. »Du triffst dich mit Bradshaw?«
»Kann schon sein.«
»Da hast du dir ja einen wahrhaften Märchenprinzen ausgesucht.« Seine Stimme klang zynisch.
»Pete ist sehr nett.«
Daniel schnaubte. »Wenn ich du wäre, würde ich mich vor diesem Idioten in Acht nehmen.«
»Halt die Klappe!« Ich fasste nach einem seiner nackten Arme. Seine Haut war eiskalt. »Wie kannst du es wagen, solche
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