Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)
auch, weil ein Schuß Scharlatanerie im Spiel war oder doch ein klein wenig Illegitimität, er hätte ja als Chemiker keine Patienten behandeln, das heißt seine Heilmethoden anwenden dürfen, was er sehr wohl tat. Es schwebte demnach auch bei ihm der Verdacht der Falschmünzerei über seiner Aktivität, wie ja auch der noble Hintergrund der großväterlichen Herkunft nicht nachzuweisen war. Dieses ganze Halbgare oder nicht ganz Stubenreine wurde durch die tiefe sektiererische Frömmigkeit, in die wir Kinder auch einbezogen wurden, rehabilitiert oder ins Sinnvolle gerundet. Ich kann mich nur vage daran erinnern, daß mir das alles nicht gefiel, daß es mir verdächtig war und abscheulich vorkam, daß ich gerne andere »Personalien« gehabt hätte, daß mich das Trügerische meiner Existenz tief belastete. Und daß ich nach Entkommen hungerte. Und nach einem ganz anderen Leben, das ich erfand. Das andere Leben sollte Hand und Fuß haben und jedenfalls keine Flickschusterei sein, nicht auf purer Prätention beruhen, sondern im hellen Licht bestehen und möglicherweise Familie heißen wie bei jedermann.
Es gab einfach keine Realität, keine handfeste wenigstens, alles war bodenlos, Schwindel, Angeberei, hohle, keine Verankerung, und wie sollte sich da ein Kind zurechtfinden, es verkroch sich in alle möglichen Schlupfwinkel, in die Keller und Hinterhöfe, in das Estrichgebiet, wenn nicht in den Wald, Bremgartenwald, das Revier des Falken, an den Wohlensee, weg von der verheimlichenswerten Unschönheit, dem Ungemach, dem Packen, der Seelenlast. Dürstend nach Schönheit, bittend um den Aufschwung der Seele, und die Dichter liehen mir Flügel. Das Kind war beschäftigt mit der Behandlung der Verletzung, der Verbannung von Scham und Schmerz. Und dem Phantasieren, weg von den Beschwernissen und hinaus in die Flugschneisen der Selbsterfindung auf den Flügeln der Sehnsucht. Heilung, Heilung vom Ungemach, dem uns angetanen Unrecht. Und in all dem brannte das Flämmchen Lebenshunger.
5. Oktober 2009, Paris
In zwei Tagen der Geburtstag der Schwester. Fiel mir ein, daß ihr hochmütiges Sich-Abgrenzen von der ganzen Bernerei, zum Beispiel im Sprachlichen, ich meine unter Vermeidung dialektaler Wendungen neuester Färbung, unter strikter Vermeidung solcher Gemeinmachung, mit dem Wunsch nach einem inneren Exil zu tun hat, nicht nur mit Mehrseinwollen. Da lebt sie ein langes Leben lang (mit Ausnahme des jugendlichen Florenzaufenthalts zu Meisterkursen bei einem Maestro Scarpini, wenn ich nicht irre) in der Berner Altstadt mehr oder weniger im Dunkeln zusammen mit dem Ausländer Luciano, der nach wie vor nur italienisch spricht, wenn er auch von dem heimatlichen Nachkriegsitalien nurmehr eine blasse Erinnerung haben dürfte; lebt sie unweit des Konservatoriums, wo sie unterrichtet hat, als eine Art komische Alte oder eine verwegen gekleidete ältere Dame, je nachdem; lebt sie als lebensgroße Prätention ihrem unerfüllten inneren Wunschleben oder Traumleben – einer Einbildung –, sowohl angepaßt wie unangepaßt, nennen wir es nie wirklich ausgeschlüpft aus der frühen Raupenexistenz und der hohen, jedoch nie bewiesenen Selbsteinschätzung, eine Eigenerfindung auch sie, ein Schiff voller Segel, eine Musikverrückte, Liebesvertrackte, ein in die hohen Jahre gekommenes Kind, eine Schwester, die meine, mit dem sie sich brüstet, weil er seine künstlerische Laufbahn nicht nur angetreten, sondern durchgelebt hat im Unterschied zu ihr; ich der Eroberer, sie die kleine, wenn auch größere Schwester, ein Bündel aus Arroganz und Sehnsüchten, unerfüllt hadernd und sich übernehmend, immer streng auf Abgrenzung achtend, eine ewige Emigrantin. Was ist ihr Exil? Sie ruft an, um sich auszuschreien, alle möglichen Leute mit den vulgärsten Beschimpfungen und jetzt auf wirklich gut berndeutsch, nämlich grobstberndeutsch diffamierend, um hernach sich dem fernen Bruder mit allerlei kleinen Memoranden mitzuteilen, Tagesverlauf, Jahreszeitliches, Stimmungsmäßiges, Kindererinnerungen, am Fernsehen Aufgeschnapptes, Krankenberichte, Ärzteschwärmereien, Geklöne und zwischendurch Schönes. Ruft an von Bern nach Paris, ruft den entkommenen Bruder an, ruft nach dem Bruder. Schläft bis über den Mittag hinaus, braucht Stunden, um sich herzurichten, zu rüsten und zu brüsten, kocht spät in der Nacht, nachdem sie sich mit dem angeschlagenen Gatten gestritten und herumgestritten hat, der längst sein Süppchen hinter sich hat und nur
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