Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)
erste Seite des Lebens leer wäre? Sie war leer, in der Tat. Er ist sich früh gestorben, sich selber gestorben, weil seine Liebe, die ja der Anruf des Lebens war, keinen Gegenstand hatte, die Maria gab es ja gar nicht, nicht für ihn, und nicht nach dem schrecklichen Film über das Lager, weil es die Menschheit mit einmal nicht mehr gab. Das ist die Traurigkeit dieses Stoffes. Früh gealtert und höflich. Eine lebendige Attrappe war er geworden, sich selber gestorben.
Zurück aus Bern, Lesung im Kunstmuseum und eingeführt vom Direktor unter Zitierung meiner Personalakte von damals (Anfang fünfziger Jahre): Assistent für Propaganda und Public Relations. Der Direktor fügte noch an, daß ich anderweitig sein Vorgänger gewesen sei, nämlich an der NZZ , ein berühmter Vorgänger, jedoch sehr rasch den Dienst quittierend an der Zeitung, wobei meine Beiträge zur Kunst unerreichbar seien, eben aus dichterischer Befugnis geschrieben oder so ähnlich, nun, ich war geschmeichelt. Und las in der alten Umgebung meiner jugendlichen Vergangenheit aus Das Jahr der Liebe und der Forelle ; nachdem ich mit den Nachkommen von Wilfried Moser, von dem eben jetzt eine Retrospektive gezeigt wird, längere Zeit in der Cafeteria zusammen war, die ich ja damals vor einem halben Jahrhundert als Student eingeführt hatte, was wohl auch erwähnt worden ist. Und PK Wehrli war mit den Kameraleuten vom Fernsehen zugegen und filmte mich in der Moser-Ausstellung und beim Lesen aus meinen Büchern. Und hinterher gab es im Hause Hahnloser ein Abendessen zu meinen Ehren, großbürgerlich nobel und vergnüglich, ich hatte meine Schwester dabei, die sich für einmal gut unterhielt und gebührend beeindruckt gab. Wiederum eine Rückkehr in die frühe Zeit (wie in München etc.). Die Hahnloser Wohnung an der Sonnenbergstraße mit Blick auf Aare und Münster und hängendem Garten. Luxus – dies im Unterschied zu Professor Hahnloser, meinem Lehrer. Ja, Bern gab es diesmal wieder in nuce und in Fülle, nicht nur in der Länggasse, das heißt an der Erlachstraße Nähe Revier des Falken (bei Hunziker), sondern auch sonst, so im Progymnasium, meinem einstigen »Affenzwinger« (so im Volksmund) zusammen mit Wehrli, im Untergeschoß neuerdings eine ziemlich sympathische Szenenkneipe. Und des weitern zusammen mit Walter kurz vor meiner Abreise an den Wohlensee gefahren und durch das eine Dorf mit den mich aus der Kindheit erreichenden Düften nach Milch und Kalb und noch etwas, Reinlichkeit? Landleben, ein Duftgemisch aus unseren ewiglangen Sommerferien der Kindheit. Und den nach der Lesung im Museum im Literaturarchiv zusammen mit Valérie verbrachten Freitag nicht zu vergessen, meiner anderen Schule, dem Gymnasium, gegenüber. Denselben Abend kam noch Leonid kurz angereist. Außerdem viele Stunden an der Münstergasse bei Schwester und Luciano.
Pfingstsonntag 2009, Paris
Eben dachte ich, daß ich ähnlich wie Brigitte in ihrem Altersheim in einer Art Einsamkeitsverwirrung stecke, nicht pathologisch wie sie, ohne Klinikaufenthalte, ärztliche Hilfe, Medikamente und nicht isoliert – ich gehe ja andauernd auf Lesereisen und andere beruflich bedingte Veranstaltungen, empfange nicht nur Privat-, sondern andauernd Journalistenbesuche, vor allem arbeite ich (bin berufstätig) etc. –, und dennoch empfinde ich an einem Feiertag wie dem heutigen mein Alleinsein wie eine an Einzelhaft grenzende Verlassenheit. Nun. Auch Beckett ist ja im hohen Alter (freiwillig) in ein Pflegeheim eingetreten. Es ist normal. Man wird wieder alleinstehend im Alter, die Partner sind häufig tot, man ist der Überlebende oder aber sonstwie durch die Maschen gefallen. Ich komme darauf und auf den Vergleich mit Brigitte, weil wir uns ja blutjung als Studenten zusammengetan hatten, bevor wir heirateten und Kinder aufzogen und uns verließen. Als wir uns verließen, waren wir Mitte dreißig. Inzwischen sind wir beide irgendwie auf der Strecke geblieben. Wir heirateten 1953. Ich schreibe unter dem Datum des 31. Mai 2009, vorgestern bin ich von Düsseldorf zurückgekommen (Podiumsgespräch im Heinrich-Heine-Haus/Buchhandlung Müller), Reise im Thalys zusammen mit Goldschmidt. Wenn ich in die verhältnismäßig neue Wohnung Montparnasse zurückkehre, meist spät in der Nacht, wartet keiner auf mich. Am Mittwoch kommt Henning, und am Samstag gehts nach Wien, Graz, Klagenfurt. Und jetzt ist Pfingstsonntag, und auf dem kleinen Beistelltisch sind die Pfingstrosen in einer derart
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