Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)
Wohnung an der Carmenstraße in Zürich, zu Gesprächen und Whisky. Auch in Rom gab es wunderbare Spaziergänge (Kenner der Etrusker). Ich habe seine Totenrede gehalten, neben Johannes Itten (den ich nicht zu meinen Mäzenen und schon gar nicht zu meinen Mentoren zähle, jedoch zu den Übermittlern als Zeitzeuge).
Ich denke, wenn einmal die Schreibsituation hier in der kühlen Erdgeschoßwohnung besser gelöst sein sollte (durch Umstellung der Möbel und bessere Lichtplazierung des Tischs, den ich im übrigen zu ersetzen hoffe), könnte ich ein Atelier entbehren. Müßte lediglich einen klitzekleinen exterritorialen Außenposten für ein Bücherregal und eventuell ein Stehpult finden. Wo?
5. August 2009, Paris
Typische Sommerverbringung. Ein bißchen Geselligkeit, Besuche, Verabredungen, ein bißchen Kino, zuletzt Pietro Germis Signore e Signori , eine stachlige Gesellschaftskomödie rund um den Sexus in einer Provinzstadt, Frau und Mann passen anscheinend nicht zusammen, es sei denn kurzfristig bei Seitensprüngen, was seinen Preis hat, am wichtigsten das Vertuschen, der Hohn, die Schadenfreude hinter vorgehaltener Hand. In der Gesellschaft heißt es das Gesicht wahren.
Ich war zusammen mit Dolf Oehler und vordem in der Kandinsky-Ausstellung im Centre Pompidou. Am besten gefiel mir die letzte, die Pariser Periode mit den scharfgeschnittenen, kunterbunten, durch den Raum purzelnden nun, was? Edelsteinen? Intarsien? Kaleidoskop-Partikeln? Kandinsky ist erst da wirklich abstrakt, weil diese Fundstücklein sich nicht auf Gesehenes zurückführen lassen, sondern einfach aus einem inneren Märchenfundus stammen. Überhaupt ist bei ihm das Märchenhafte latent immer da, und damit das Erzählerische. Man kann bei ihm feststellen, wie er sich aus der russischen Volkskunst, fast möchte ich sagen, Stickerei, mit inbrünstigen Klängen zu wollenen Landschaftsauflösungen in den expressionistischen Farbklängen der Franz Marc und Jawlensky zu dramatischen Liniengeschehnissen mit farbiger Grundierung etc. ins Abstrakte vortastet oder besser vorkämpft und dann zuletzt über tiefschürfende Hinterfragungen über das Geistige in der Kunst zu strengen Handhabungen von Punkt, Linie, Quadrat etc. als Bauhausmeister theoretischer Aufrüstung entwickelt. Ich muß gestehen, daß mir die Ausstellung nicht naheging. Das Abstrakte war wohl doch ein Irrweg. Bei ihm scheint das russische Volksgut bis zuletzt ikonisch durch. Mein Vater sieht auf Fotos ähnlich intellektuell aus, mit Kneifer oder runden Brillengläsern und gepflegtem Anzug.
Seit nun schon langem sehe ich diesen bärtigen, unter einer Kapuze auch bei heißem Wetter verhüllten, bedrohlichen jungen Menschen auf dem Boulevard Montparnasse unter einer Tür Posten beziehen, ja er wirkt wie ein Torwächter oder Tempelwächter, er steht da in seiner geballten Finsternis, ein Obdachloser, ein Heimatloser, ein verirrtes Glied der Gesellschaft, einer von weither. Er ist einschüchternd, ich habe mir angewöhnt, ihn zu grüßen, ihm zuzunicken. Sich den dazugehörigen Hintergrund mitsamt Herkommen auszudenken scheint nicht nur unmöglich, sondern wie Lästerung. Man möchte einen Bogen um so einen machen und tut es auch. Wie es in ihm aussehen mag? Und wir gehen unseren Geschäften und Vergnügen nach.
12. August 2009, Paris
Habe herausgefunden, daß der Geburtstag meines Vaters der 14. August ist, übermorgen. Er ist 1891 zur Welt gekommen und 1942 gestorben, mitten im Krieg.
Für den NAGEL ist zentral weniger die Maria-Thematik als die Zurückweisung der Personalien. Vermutlich habe ich mich oder hat sich etwas in mir damals in der Kindheit, wohl eher früher als später, geschämt für die gewissermaßen abgrundtiefe Nichtverankerung im Herkommen und in der Lügenhaftigkeit bezüglich unseres sozialen Status, der ja in Wirklichkeit nur angeberische Fassade war, die wiederum eine flickschusterhafte Realität verbarg. Nichts, das hielt oder feststand, ein Überlebensgewurstel der sogenannte Pensionsbetrieb, undurchschaubar wie sein Herkommen Vaters sowohl forscherische wie »behandelnde« Tätigkeit, wenn auch die Forschung und die daraus resultierenden Medikamente, Heilmittel- bzw. -methoden stimmen mochten und vielleicht sogar wissenschaftlich anerkannt waren. Dem Habitus entsprach kein finanzieller Erfolgshintergrund, weil Vater sehr früh aus dem Erwerbsleben ausschied, aus Krankheitsgründen, aber auch vordem, wie mir scheinen will, vielleicht übertreibe ich
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