Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)
ein Thema angeschnitten, das zunehmend – und von Frankreich ausgehend – die Beschäftigung mit diesem »Kulturpariser«, wie er sich selbst bezeichnet, und mit seinen Büchern bestimmt: Autobiografie und Autofiktion. Der Begriff Autofiktion stammt von dem französischen Schriftsteller und Literaturkritiker Serge Doubrovsky und besagt zunächst nicht mehr, als daß es sich um ein neues Verfahren der literarischen Selbstdarstellung handelt, die die Trennung von Autobiografie und Fiktion nicht mehr einhält.
Bachmann hinterfragt Nizons Pariser »Emigrantenexistenz«, in der er seit 1977 lebt. 1970, am Ende seiner Kunstkritikertätigkeit in Zürich, hatte Nizon seinen polemisch-kulturkritischen Diskurs in der Enge veröffentlicht, der damals in Schweizer Intellektuellen- und Künstlerkreisen stark diskutiert wurde. 1977 war er in einer Schaffenskrise und nach der zweiten Scheidung nach Paris umgezogen, wo er von seiner Tante eine kleine Zweizimmer-Mansardenwohnung geerbt hatte. Hier, im sogenannten »Schachtelzimmer«, »dieser kleinste Ausschnitt eines Gehäuses, als Durchgangsraum und Verdauungsapparat von ›Gegenwart‹, als CELLA: Bewußtseins-Behälter« (25. August 1977), konnte er zunächst unterkommen. In seinem Paris-Roman Das Jahr der Liebe (1981) hat er das Domizil in der Rue Simart im 18. Arrondissement als einen skurrilen Warteraum des Lebens verewigt.
Bachmann sieht im Umzug nach Paris auch Ansätze einer Flucht, wenn er fragt: »Du wolltest dich hier, wo es eine enorme Tradition der Emigration gibt, nicht nur einordnen – du wolltest dich wohl auch ›ausordnen‹. Du wolltest mit dem, was man die Schweizer Künstler- und Intellektuellengesellschaft nennen kann, nichts mehr zu tun haben.« Nizon stellt zwar später im Gespräch fest, daß die Tante bereits 1973 gestorben war, er also bereits Jahre früher hätte nach Paris gehen können – aber er will den Fluchtgedanken nicht völlig von der Hand weisen und antwortet: »Ja, vermutlich schon. Nur muß ich ein neues Wort hinzufügen: Der Mann, der hier neu anfing, war eine Selbsterfindung. Eine Eigenerfindung, die sich entsprechend manifestierte.«Was ist gemeint? Über den Verweis Bachmanns auf den Entwicklungsroman Anton Reiser von Karl Philipp Moritz kommt man der Erklärung näher: »Reiser als einer, der sich aus dem Nichts erschaffen muß …«, sagt Bachmann. Und Nizon fährt fort: »… ein Fremdling, ein sich selbst Fremder, einer, der sich selbst entdecken muß. Das Autobiografische bei Moritz, oder besser gesagt die Selbstabbildung, ist ein Stichwort, das auch für Robert Walser gilt. Was meinen Fremdlingshabitus oder Emigrantenhabitus betrifft, so kommt der natürlich eindeutig von meinem Vater, dessen Bild ich bis zum Abitur als Foto auf mir trug.« Zu dieser Geste der Vaterverehrung muß man wissen, daß Nizons lange kränkelnder und als Familienoberhaupt oder für die Erziehung seiner beiden Kinder nicht vorhandener Vater, ein exilierter Russe, von Beruf Chemiker und Erfinder, in Bern starb, als Sohn Paul zwölf Jahre alt war. Die Bedeutung dieses Vaters hat sich erst nachträglich herausgebildet, der Vater wurde zur Projektionsfläche der Phantasien des Sohnes als junger Mann und erhielt im Rom-Buch Canto (1963) seine postume Würdigung.
Anton Reiser ist Autobiografie und Roman zugleich, die Lebensstationen Anton Reisers sind mit denen seines Autors weitgehend identisch. Von Nizon geht der Weg der Selbsterfindung über Karl Philipp Moritz zu Robert Walser. In seinen Frankfurter Poetikvorlesungen, Am Schreiben gehen (1985), konkretisiert Nizon den Vergleich am Beispiel von Walsers Roman Jakob von Gunten . Auch das ist eine Figur aus dem Erleben seines Autors. In seinen Vorlesungen hat Nizon dargelegt, daß es sich bei diesen »Helden« um eine besondere Spezies handelt. Er beschreibt sie als Tagträumer, Lebensverliebte, die sich der Ernüchterung verweigern, die mit dem Erwachsenwerden einhergeht. Mit einer »Alles-oder-nichts-Haltung« träumen sie den Traum vom großen Glück, bleiben aber im »Vor-haben« stecken, dringen zur Handlung nicht vor. »Da der Traum nicht zu verwirklichen ist, erscheint dessen Inhaber häufig als hochfahrend, maßlos, aufbegehrend gegen Gott und die Welt, melancholisch, empfindsam, leidenschaftlich, aber eben alt von Wissen und darum gleichzeitig müde – wie Petschorin in Lermontows Ein Held unserer Zeit … « Der »Lebensanwärter« Jakob von Gunten wird von seinem Autor in die Schule
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