Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)
Station Saint-Philippe-du-Roule. Der Zahnarzt hat die Praxis an der Rue d’Artois. Jetzt bei dem herrlichen, im Grunde noch sommerlichen Frühlicht ist die Stadtdurchquerung berückend und mehr als nur ein Vergnügen. Es sind nicht nur die wechselnden Außenansichten, am wichtigsten im übrigen die Überfahrt vom linksufrigen ins rechtsufrige Gebiet, ein Klimawechsel, ein Schnitt. Natürlich sind die Panoramen vor den Busfenstern (im fahrenden Abteil) eine unerhörte Zufuhr und Unterhaltung und gewaltiges Futter fürs Hinterherdenken, Wiederentdecken und Sinnieren, auch das Businnere ist erregend, das Leben in den Menschen, das Erraten der Leben und Lebensumstände und Innenwelten, besonders auch bei Frauen. Glücklicherweise hat das laute Telefonieren und exhibitionistische Demonstrieren etwas nachgelassen. Dachte mir, daß ich bei meiner Lesung in Zürich, in einem neuen Museum, das Beat Zoderer eingerichtet zu haben scheint, meiner Geburtstagslesung, Sonntag vormittag den 19. Dezember, auch aus Busnotizen lesen werde, die Rede an das unbekannte Mädchen z. B. und zum Schluß »Die weißen Strümpfe«.
Bin immer freudig erregt, wenigstens neuerdings, wenn ich von meinen Ausflügen zurückkehre, ich sage Ausflüge, weil sie mit Stadtdurchquerungen und verschiedenen Anlaufstellen (Arzt, Physiotherapeut, Reinigungsanstalt, Papeterie, Post etc.), um von Verabredungen mit Freunden bzw. Besuchern zu schweigen, den Charakter von Unternehmungen und nicht nur Besorgungen annehmen. Fühle mich von den Begegnungen, vom Alltag der andern, vom gemeinsamen Alltagsgeschäft und Tagvollbringen jedermann verbunden. Wenn ich nur wüßte, warum ich mit dem Nagel nicht klarkomme. Es fällt mir einfach keine Fortsetzung, weil keine Leitlinie oder Richtung ein. Zu sagen ist natürlich, daß ich den Stoff oder besser das Projekt seit Monaten habe fallenlassen. Ob ich den Fast-Kadaver zum Leben bringen und erwärmen kann?
18. Oktober 2010, Paris
Bei der Lektüre des Briefwechsels zwischen Thomas Bernhard und Unseld ist für mich bei beiden Kontrahenten das Unternehmerische auffallend. Sie sind vorab Geschäftspartner, beide daran interessiert, Bernhards aufsehenerregende Ware nicht nur unters Volk zu bringen, sondern zu versilbern, der Verleger ist zu guten Teilen Bernhards Agent und dies in meinen Augen im großen Stil. Es geht um Verhandlungen mit Theatern, es geht um finanzielle Transaktionen (nicht nur um Vorschüsse), Überweisungen, Forderungen; und dann von Verlegers Seite um die via Verkauf zu erlangende Kostendeckung der investierten Summen; es geht um Rechtsfälle, um Öffentlichkeitsarbeit (Zeitungsredaktionen, Presse u. Fernsehen), es geht zu diesem Behufe um immer neue Verabredungen in irgendwelchen Städten des In- und Auslands, wie es Bernhard beliebt; und innerhalb dieser Treffen geht es um Luxus, Luxushotels, Kurorte, Internationalität. Bernhard war nicht nur selbstbewußt bis größenwahnsinnig, er war ein schrecklicher Beschimpfer, Herausforderer, Forderer überhaupt. Eine solche Partnerschaft entsprach einem Menschen von Unselds verlegerischem Format und Hunger, beider Eitelkeiten sorgten für Spannung und Funkenschlag. Eigentlich ist in diesem Briefwechsel von Literatur kaum die Rede, es wird einfach Bernhards Genialität stillschweigend vorausgesetzt. Nun, in beider Partner Zusammenarbeit geht es um Erfolg , klingenden und klingelnden Erfolg – und Skandal.
Dazu meine Erfolglosigkeit. Schon einmal war ich kein Lieferant wie Bernhard, sondern ein in schreckliche Gestehungsschwierigkeiten verfesselter Höhlenmensch, ohne nennenswerten Verkauf, dem erstaunlicherweise schon früh der Titel eines bedeutenden bis großen Autors verliehen wurde. Ich war für Unseld kein Geschäft und insofern kein Geschäftspartner, ich blieb in seinen Augen eine Art offene Wette, fast ebenso arrogant wie Bernhard, etwas für Liebhaber oder Gerüchteträger. Und ich stand in keiner vergleichbaren Weise in der Öffentlichkeit. Er stand im Licht und ich im Dunkeln, wie Joachim Unseld das Foto von uns beiden untertitelt hat, auf welchem eine krasse Licht- oder besser: Helldunkelscheidung den Hintergrund bildet. Ich laufe im Dunkeln der Literatur hinterher und nicht dem Erfolg, könnte man es schonungsvoll ausdrücken.
Nachwort
Dichter der Verwandlung
In dem Gespräch Paul Nizons mit seinem Schweizer Kollegen und Freund Dieter Bachmann, das 2011 unter dem Titel Ein Schreibtisch in Montparnasse erschienen ist, wird auch
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