Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)
Schönheitssucht, alles in allem ein ENTKOMMEN, zu kreieren, ein Zweitleben zu erfinden, in welchem die Drogen Schönheit und Seele, in welchem Betörung eine große Rolle spielten. Ich könnte auch vom Glücksanspruch sprechen.« Drei Zitate, die verschiedene Aspekte des Themas umkreisen.
Autobiografie-Fiktionär, Selbsterfindung, Eigenerfindung – immer wieder fordert Paul Nizon mit Ironie und tieferer Bedeutung seine Leser heraus, indem er zum Beispiel seinen Journalen Titel gibt, die auf den ersten Blick verrätselt sind und in diesem Fall die Autorenrolle hinterfragen. Der Titel Urkundenfälschung kommt als Wort in diesem Band nicht vor. Wer da welche Urkunde gefälscht haben könnte, das steht nirgendwo, es ist nur aus dem Werk zu erschließen. Hinweise wird man nur indirekt finden. Ist aus diesen Zitaten, in denen der Autor von der Zuschreibung eines Lebens, vom aus Büchern und Träumereien gestohlenen oder entlehnten Lebensroman schreibt, von der Erfindung eines Zweitlebens, eine »Urkundenfälschung« abzuleiten, die den Titel begründen könnte? Ich meine: Ja! Die Frage ist: Wer schreibt? Und wodurch unterscheidet sich Paul Nizon von seinem schreibenden Alter ego? Auch darüber geben die Journale Auskunft, ist doch Nizons zweifelnder, nur gelegentlich zuversichtlicher oder gar euphorischer Blick auf seine Schriftstellerexistenz ein durchgehendes Thema.
Die Emigration nach Paris im Jahr 1977 sollte also in literarischer und in persönlicher Hinsicht ein Neuanfang sein, »dieser Stadt muß man ja etwas beweisen. Sonst geht man jämmerlich unter«, sagt Nizon im Gespräch mit Bachmann, spricht von Kapitalen als Zentren der Herausforderung, »es ist ja nicht von ungefähr, daß so viele Künstler, die namenlos hier ankamen, wie Modigliani, Soutine, Pascin und natürlich van Gogh, die Heimatlosen, es gerade hier zu etwas gebracht haben«.Daß Paris als Befreiung, Neuanfang und Aufbruch ins Offene erhofft und gedacht war und daß dies mit einer neuen Liebe und dem Roman Das Jahr der Liebe auch tatsächlich gelang, ist schon in den vorigen Journalen beschrieben worden. In diesem Band finden wir unter dem 9. Januar 2002 einen Eintrag, der auf drei Bücher anspielt, Das Jahr der Liebe , Im Bauch des Wals und auf den noch in Arbeit befindlichen, 2005 herausgekommenen Roman Das Fell der Forelle . Auch hier stellt sich die Frage, wer schreibt, was schreibt? »Ich schritt durch den Spiegel, hatte ich nicht dieses Bild gebraucht in meiner ersten Zeit in der Tantenwohnung, nach all den gefährlichen, jedoch überstandenen Ängsten, ja, ich erinnere mich, dieses Bild aufgeschrieben zu haben, und zwar als Trophäe, Siegestrophäe, bin durch die Spiegel geschritten, als wäre ich von nun an gefeit. Kein Bild, kein Erkennungsbild mehr, nunmehr in ein Unbekanntes wie in ein Fell oder Urfell gewandet herumlaufen und vor allem zu schreiben, was schreibt? Im Jahr der Liebe ist es das Buch, das sich schreibt, und von den Caprichos an ist es nurmehr das pochende Herz oder ein Unbewußtes, eine Stimme, eine Bewegung, Regung, ein in der glitschigen Forelle atmendes Befinden und Glucksen wie der Rinnstein, eile eile.«Für Nizon, der die engste Verkettung von Schreiben und Leben für sich beansprucht, deshalb auch der Titel Am Schreiben gehen für seine Frankfurter Poetikvorlesungen, der »als Stoff nur Selbsterlebtes in Betracht zieht, nicht erfindet«, manifestiert sich Realität »einzig in den komplexen Prozessen subjektiven Erlebens«. Daß sich diese vielschichtigen Prozesse nicht in übersichtliche Abläufe stopfen lassen, scheint da naheliegend. Dieser Realitätserfahrung entsprechend, folgt im Journal den Äußerungen des Sieges und dem Bild der gelungenen literarischen Entgrenzung sofort die Infragestellung: »Heißt das Bild, ich bin durch den Spiegel geschritten, soviel wie ich bin mich und alles losgeworden und vielleicht wesentlich geworden, auf Grund angelangt? und allem entlaufen? eile eile.«
Hier scheinen sich Themen zu kreuzen, die der Psychoanalyse, dem Surrealismus – etwa der Malerei von Magritte, dem Orpheus-Mythos bei Cocteau – oder auch den Theorien Jacques Lacans nahe sind, vom Existentialismus bei Sartre und Camus ganz zu schweigen. Die französische Konnotation dieser Themen macht deutlich, daß Nizon auch im literarisch-geistigen Milieu seiner Emigrantenexistenz in Frankreich nicht nur längst angekommen, sondern mittlerweile auch verwurzelt ist. Seine essayistischen Künstlerporträts aus dem
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