Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)
ich nichts weiß und verstehe. Hier scheint eine andere Sonne und herrscht ein anderer Kompaß. Trotz der europäisch weltgewandten höheren Schicht scheint ein arabischer Härtegrad durch wie die Konturen eines finsterlich anderswohin ausgerichteten Gesichts. Ich kann es nicht sagen. Es entzieht sich meinen Begriffen. Ich bin darum mit dem dortigen Leben nicht warm geworden. Etwas in mir verkroch sich in Sprachlosigkeit, wenn nicht Abwehr.
20. Juli 2010, Paris
Ich denke, daß ich Maria umbringen werde. Es wird eine Liebestat, es wird die falsche Vereinigung, Umarmung einer Gewesenen, eines Traums. Darum das Verhör und das Abschweifen des Schuldigen oder Ratlosen, er ist ja selber ein Gewesener. Ist er nicht wie ein Geheilter, ebenso traurig?
Das Ganze muß in der Schwebe bleiben, Schwebe eines Entrückten oder Jenseitigen oder Glücklichen. Es war ihm ja nicht zu helfen gewesen. Er hatte nur zu schwer an seiner Maria getragen.
Die Verhörfragen sind lange nur so eingestreut, und der Leser weiß nicht, wer die Fragen stellt und warum überhaupt das Verhör und wo es stattfindet. Ja, das ist die Frage, wo findet es statt? Im Irrenhaus oder Gefängnis? Jedenfalls vor dem Richter, vor dem Gericht.
Man liest ja von Mördern, die ihre ganze Familie metzelten, um ihnen etwas zu ersparen oder zu verschweigen. In meinem Buch müßte le fait du crime erst ganz zuletzt installiert werden und damit das Buch.
Als Untertitel: ein Fragment
ist nicht alles Fragment?
Oder Spolie. Oder eben Grabstein. Oder frühes Grabrelief, hier die Antike endlich einbringen
Ich muß jetzt erst einmal das ganze Material irgendwie montieren. Dann den Ton bestimmen mit allen willkürlichen Abschweifungen ins Bekenntnis und nicht Geständnis . Und immer verwirrender muß der Verhörton durchschimmern. Und zum Schluß die Coda. Der Schlüssel. Wer erzählt wo. Der Schuldige vor dem Gericht.
Der Nagel im Kopf ist nicht nur das Lager. Es ist auch die letztliche Aussperrung von allem Teuren, weil Unerreichbaren. Der Verworfenheit. Oder alles ist Wahn. Vanitas.
1. August 2010, Paris
Zurück aus der Schweiz und kurz darauf in der Notfallstation des Spitals Saint-Joseph, wohin mich ein Notfallarzt nach einer durchhusteten Nacht und mit Fieber per Ambulanz einliefern ließ in der Befürchtung, es könnte sich um eine Lungenentzündung handeln und Schlimmeres.
In langen Abständen wurde ich von liebenswürdigen weiblichen und männlichen Helfern in die Untersuchungsabteilungen verbracht und dann wieder auf einem Gang stillgelegt. Frisch hätte gesagt: Ich weiß jetzt, wie es ist mit dem letzten Gang. Ich dachte auch an eine Generalprobe, hatte jedoch nicht ernstliche Befürchtungen, wenn ich mir auch sagte, so könnte es ausgehen.
Gegen Mitternacht kam ich noch zum Scannen der Lungen ins Rohr, das war der Abschluß der Untersuchungen. Worauf mich zu meinem größten Erstaunen eine bis dahin nicht gesehene Ärztin – nun, es hatte inzwischen ja der Schichtwechsel stattgefunden – an meiner Bahre besuchte mit dem Bescheid, ich werde entlassen und gleich mit der Ambulanz heimgefahren werden, Odile sei schon verständigt.
Es war schon eine generalprobenmäßige Erfahrung eines möglichen Abgangs, vor allem wenn ich an den eiligen Besuch von Igor denke, der da plötzlich unverhofft aufgetaucht war mit Blumen in Händen und immerzu meine Hand hielt, einigermaßen verstört. Ich hatte eine schwere Bronchitis und nehme starke Medikamente.
23. September 2010, Paris
Habe eben zwischen Kofferpacken (Abreise nach Damnatz zu Marie-Luise Scherer) und Aufräumen ein bißchen in Nabokovs Gabe gelesen und dessen überreiches schöpferisches Programm und Realisieren ermessen und im Unterschied dazu meine erzählerische Sparflamme bzw. das ewige Verhindertsein. Irgendwo in meinem Journal habe ich notiert, meine Bücher seien die Särge der ungeschriebenen Romane – die Themenlosigkeit aus Gründen der Selbstverknäuelung, das mühselige Umwenden meiner Innereien in äußere Abhandlungen und Einfälle und zu meiner Rettung das Sprachprogramm. Eigentlich sind meine Bücher ein riesiger Kommentar über Verhinderung und Knebelung. Und über die Schwierigkeit des Schreibens. Frage mich, was die Liebhaber meiner Bücher an meinem Geschriebenen finden.
8. Oktober 2010, Paris
Eben zurück vom Zahnarzt, Fahrt im Bus 83 über Les Invalides ins rechtsufrige noble 8. Arrondissement und über Rond-Point und Matignon zu meiner
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