Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)
Leibwerdung. Farbgeschiebe oder eruptive Befleckung der Leere, es ist auch Seismographie, es ist vor allem Agitation, Substanziation, und es ist bewegend, weil spontan und de profundis.
Ach, wie mich bei den Action Painters die subtile Befleckung der leeren Leinwand und dann das Kontinentwerden, die Inselgeburten aus dem Nichts, die wunderbaren Farbrauschkräfte und sensiblen Nuancierungen ergriffen haben. Weil es mir zutiefst entsprach, Geburt der Schönheit aus dem Bade des Nichts. Selbstwerdung auf Papier und Leinwand. Wahrheit im Gekräusel oder Schaume. Vorführung von Genesis ohne Ende. Wahrlich ohne Fabel und Faden – ICH.
4. Juni 2010, Paris
Neulich hier in meinem Viertel von einer Vorübergehenden (la passante), die ich kaum wahrgenommen hatte, alarmiert und verzückt worden, ich erriet nicht einfach den schönen Leib und die einzelnen Körperformen, sondern die Haut- und Fleischbeschaffenheit, das Anfühlen derselben, sie waren nicht einfach vollkommen in meinem Sinne, sondern das schönste Versprechen, Entsprechen für den alten Adam in mir, sie waren Wohlklang und auf mich zugeschnittene Liebesgaben, sie waren Glücksinbegriff oder so ähnlich, fast Taumel, obwohl die Frau überhaupt nicht provokant gekleidet war und nur überaus natürlich daherging, doch die Physiognomie des Leiblichen schlug als Person durch und erreichte mich, nun, wie eine Offenbarung, es hätten nur Termini wie die aus den Psalmen, aus dem Hohelied des Alten Testaments ausgereicht, würde ich nach Worten für die Wucht der Begegnung und meiner Bewunderung, die schon fast in Anbetungsgefühle hinüberglitt, gesucht haben; das Schönste. Unwiederbringlich. Der erste und der letzte Blick, wie einer es für die Baudelairesche unbekannte Passantin formuliert hat. In anderen Fällen der Aufreizung sind es Einzelheiten, Einzelzüge oder wie sie sich hinträgt, was das Begehren auslöst, in einem Falle wie dem beschriebenen gehört der Blitzschlag des bewundernden Aufmerkens ins Kapitel der Liebe auf den ersten Blick – und das Entschwinden der Passantin ein Schmerz.
10. Juni 2010, Paris
Zurzeit allerlei Ermutigung auf mich zugekommen, einmal die Anfrage eines amerikanischen Verlegers für den Erwerb der Rechte von Das Jahr der Liebe , es scheint, der Vertrag sei abgeschlossen. Zudem gestern abend aus dem Briefkasten den Brief der Kulturministerin mit der Mitteilung gefischt, ich sei mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur 2010 ausgezeichnet worden. Ein großer renommierter Preis mit lauter wichtigen Namen von Vorgängern wie Umberto Eco, António Lobo Antunes, Christoph Hein, Enquist etc. Damit bin ich, der ich so tief nach wahrhafter Anerkennung schmachte, in einer nicht zu unterschätzenden Liga gelandet. Ich konnte das ganz normal in einem Briefkuvert angekommene Glück den ganzen Abend nicht wirklich fassen und glauben, es ist ja auch von Moneten begleitet. Den Abend verbrachte ich mit Wiggli in der Coupole zum Abendessen, ein amüsantes Altmänner-Künstlerzusammensein von zwei Burschen, die sich in der frühen Zeit sehr nahegestanden und sich danach aus den Augen verloren haben, Wiggli hat einen schneeweißen Haarstrubbelschmuck und den leicht schlurfenden Gang, neben dem mein Gehen einigermaßen gut abschneidet, und das vergnügte verschmitzte Licht von früher in den grünen Augen, ein echtes Wiedersehen. Gestern war mein Glückstag.
17. Juni 2010, Paris
In Syrien war für mich alles auf eine merkwürdige Weise in Stille nicht einfach eingeschlossen, sondern wie verbannt. Der physische Eindruck war viel weniger stark als im Maghreb, wo die Palmen im Wind knatterten, die Betteljungen einen wie Mückenschwärme verfolgten, die Souks die geheimnisvollsten Innenräume bargen, Handwerkertätigkeiten; um von Tipasa ganz zu schweigen, Phönizierniederlassungen etc. In Syrien war das Orientalische weniger farbig, es liegt in meiner Rückschau ein ganz zarter Schleier wie ein Schirm des leise Fremden oder Unbetretbaren über den mit Ausnahme der Muezzinrufe und Minarette mittelmeerischen, wenn auch mit Wüstengürteln durchsetzten Landschaften, ich glaube, die leise Verschleierung rührt daher, daß das Staatsgebilde Syrien dem Europäischen durch die andere Theokratie und durch die Tyrannis und grosso modo durch den Islam abgekehrt ist: Das ist die Verschlossenheit. Es ist Bibelland und Römerprovinz und Kreuzrittergegend und Türkensultanat und heute im panarabischen Verband, von dem
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