Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)
»Benjamenta« gesteckt, die als Strafe für den unerlaubten Tagtraum »zur Selbstabtötung drillt«. Man könne ihn, so Nizon, als jemanden sehen, der »an der Schwelle zum Austritt erstarrt und zur Puppe oder Marionette mutiert«. Nizon zählt gleich mehrere Autoren des beginnenden 20. Jahrhunderts auf, die derartige Zöglinge mit Verpuppungstendenz aufs Papier gebannt haben, Musil und Thomas Mann, Kafka, Joyce, Svevo, Céline … und fügt mit Blick auf die eigene Biografie hinzu: »manchmal gehören eine popanzartige Vatergestalt und eine besänftigende Schwester als Begleiterin zur Konstellation des Niedergangs«.
Auch Elias Canetti, langjähriger und enger intellektueller Freund Nizons, ist an diesem Thema interessiert – aus der Perspektive des Dichters als dem »Hüter der Verwandlung«. Der Unterschied zu Nizon besteht in der Fähigkeit zur Verwandlung aus taktischem Kalkül. Nizon bewunderte Canettis Verwandlungskunst. Unter dem Datum vom 14. April 2005 hat er notiert, wie der »Menschenerklärer« Canetti »sich am Telefon in der Sprachmaske der Hausbesorgerin meldete, um unliebsame Anrufer abzuwimmeln«. Und sich in andere Menschen hineinversetzte: »Er imitierte, karikierte, demaskierte schonungslos, wenn er nicht überhaupt vivisektionierte, nun, er schlüpfte in die Haut der anderen, es war Aneignung, es war Verwandlung, ein Wort, das ihm für den Dichter zentral erschien, wie jedermann weiß.« Und wenig später: »Wenn ich mich recht erinnere, haben wir uns mit Vorliebe Menschen, Personen, erzählt, übertrieben ausgedrückt: Charaktere … Ich glaube, er ging in meinem Falle so weit, mir eine Begabung für Figurenzeichnung attestieren zu wollen, was mich darum erstaunte, weil ich mich für einen Erzähler nicht nur ohne nennenswerte Handlung, sondern auch ohne markante Figuren hielt; mein Interesse lag anderswo, nämlich in dem, was die Franzosen heute das Autofiktionale nennen.« Hier ist interessant, daß Nizon in Canetti völlig zu Recht den Autor der Verwandlung beschreibt, aber von Canettis Wertschätzung der Figurenzeichnung Nizons durch den Verweis auf sein anderes Interesse am Autofiktionalen ablenkt und sie nur am Rande zur Kenntnis nimmt. Denn seine Verwandlung ist keine freiwillige Entscheidung, es ist der aus dem Schmerz einer existentiellen Erfahrung, einer psychischen Verletzung geborene Versuch des Verschwindens oder Verpuppens hinter der Selbsterfindung, die Ablehnung jedes Erkennungsbildes. Canetti kann das pragmatischer sehen. Nur was sich verwandelt, ist von der Macht schwer zu fassen. So verwundert es nicht, daß sich Canetti in seinen Aufzeichnungen Nachträge aus Hampstead (1994) folgenden Satz von Jakob von Gunten notiert hat: »Nichts ist mir angenehmer, als Menschen, die ich in mein Herz geschlossen habe, ein ganz falsches Bild von mir zu geben. Das ist vielleicht ungerecht, aber es ist kühn, also ziemt es sich.«
Die Nähe zu Robert Walser und Vincent van Gogh hat Paul Nizon vielfach betont. Jetzt lesen wir in diesem Journal unter dem Datum vom 18. Januar 2002 zum Aspekt der Selbsterfindung des Dichters und des Mangels an Phantasie für die Entwicklung von Handlungen: »Wie bei meinen künstlerischen Paten van Gogh und Robert Walser steht am Anfang des Unternehmens nicht einfach Begabung, sondern ein Defekt, eine Verunmöglichung sowohl zum Leben wie zum Erzählen, ich nannte den Defekt ›meine Not, mein Leiden‹ von allem Anfang an, hier die tiefste Motivation und Legitimität.« Die Selbsterfindung, Selbstabbildung ist der Weg aus dieser Sackgasse. Das Journal der Jahre 2000 bis 2010 enthält eine Reihe weiterer Aussagen, die sich auf diese Problematik beziehen lassen. Am 3. Mai 2000 notiert Nizon: »Mein Weg ist auch die Erschreibung meines Lebens als Roman. Dieser soll exemplarisch sein. Ich schreibe mir ein Leben zu.«Am 6. April 2001 lesen wir: »Ich bin verblüfft (mich als Leidenden deklariert zu sehen?), dabei weiß ich ja seit längstem, daß ich mit dem hochnotwendigen Schreiben das Zweitleben, die Umerfindung praktiziere, das andauernde Mich-neu-Zusammensetzen aus Gleichgewichtsgründen, um meine Not auszugleichen, als Prothese? Mir widerlich, das literarische Phänomen der Selbsterfindung oder besser Selbsterschaffung als Notlösungsprozeß und -praxis ansehen zu müssen.« Und am 7. Juli 2001: »Ich war bereits dabei, mir einen aus Büchern und Träumereien gestohlenen oder entlehnten (geliehenen) eigenen Lebensroman und eine damit zusammenhängende
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