Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)
und wie sie in der freizügigsten Zärtlichkeit auf meine Freiheiten reagiert hatten, ja ihnen bedeutete ich etwas, sie liebten mich, und mein geschraubtes Abschiedsgetue schmerzte sie, wenn sie es auch nicht zu zeigen wagten, wir waren nicht nur vertraut, wir waren intime Gespielen gewesen, des öfteren, und sie hatten mir ihre Gunst gewährt, weil ich eine Ausnahmefigur und darum für sie mehr als nur liebenswert, nämlich willkommen gewesen war, sie hatten mich in ihr Herz geschlossen. Und nun würde ich alle und sie verlassen. Ja, hinter dem dandyhaften Auftritt steckte blutiger Ernst. Ich wollte endlich dieses tändlerische Halbleben und Scheinleben hinter mir lassen, ich wollte ernst machen und aufbrechen, das fühlten sie, und es tat ihnen weh. Ich war in diesen Kreisen lange ein Bevorrechteter gewesen und hatte mir allerlei herausnehmen dürfen, auch bei den Mädchen, aufgrund der in mir schlummernden Anlagen eines Ausnahmemenschen, das hatten sie gewußt und darum hatten sie mich auf ihre Weise geliebt. Und nun ging ich.
28. Juli 2003, Paris
Gestern sehr spät nachts noch einen Dokumentarfilm über Cassavetes gesehen mit Gena Rowlands, Seymour Cassel, Peter Falk, Ben Gazzara u.a. nebst Ausschnitten aus verschiedenen Filmen. Da war zum einen die tiefe Zuneigung aller zu diesem charismatischen »Bandleader« hätte ich beinahe gesagt, weil sie alle zusammen offenbar so etwas wie eine Bande, Freundesbande waren, Familie? etwas von Brüderlichkeit atmeten alle Bezeugungen und dann daß ein jeder sich von Cassavetes geprägt fühlte. Alle sagten sie, sie hätten viel gelacht, in einem ansteckenden Überschwang ohne Seitenblick auf materiellen Erfolg nicht nur gearbeitet, sondern am gleichen Strick gezogen, im Vergleich zu hollywoodischen Usancen irgendwie unprofessionell, dies auch in dem Sinne, daß die einzelnen Sequenzen scheinbar improvisiert gespielt und gedreht worden seien, wenn auch in verschiedenen Varianten. Cassavetes scheint seine Leute zwar motiviert und, wenn ich richtig verstanden habe, bezirzt, aufgemöbelt, konditioniert zu haben, aber nicht richtig eingeweiht, nicht in ein Drehbuchkorsett gesperrt, sondern losgelassen zu haben, bis sie ihr Äußerstes sozusagen blindwütig hergaben. Und hernach hat er das Beste zusammengeschnitten. Dabei habe er sehr wohl ein ausgearbeitetes Drehbruch besessen. Er kitzelte ihre heftigsten Emotionen hervor, sie hatten den Eindruck, sich selber überlassen zu sein, kurzum, alles wirkte wie nicht einstudiert, und für alle war es eine Selbstentdeckung beim Spielen, dies im Gegensatz zu einer Rolle, einer einstudierten und komponierten Rolle.
Eigentlich war jeder einzelne selber Filmer in diesem Team, es schien keine Rangordnung gegeben zu haben, sie kassierten ja auch nichts oder so gut wie nichts an Honoraren. Aber da war dieses Zusammengehörigkeitsgefühl, diese Euphorie, und alles war auch Spaß und geteilte Freude, geteiltes Leid, geteiltes Risiko. Aber das Herz des Unternehmens war C., es waren sein Pulsschlag, seine Verrücktheit, die das Ganze animierten. Und dieser C. – das bemerkten alle – war überschäumende Lebensliebe und Menschenliebe. Und übrigens drehe sich das ganze Werk um die Liebe, auch um die Schwierigkeiten der Liebe, die Hindernisse, die Qual, bisweilen die Unmöglichkeit – Opening Night , A Woman Under the Influence , Minnie and Moskowitz , Faces , Shadows …
Es ist ja auch diese überbordende Vitalität, die unglaubliche Entblößung der emotionalen Vorgänge manchmal bis zum Grade der Unerträglichkeit, was dermaßen unter die Haut geht und mitreißt. Im Glauben (und Ringen) um die Möglichkeiten der Liebe, der Freundschaft steckt Cassavetes’ Vision oder Utopie oder Engagement und – Humanität. Es gibt keine menschlichere Filmkunst als die seine, sie kommt mit einem Minimum an Fabel aus, sie quillt aus einer unvergleichlichen Reinheit, sie ist komisch und herzzerreißend. Und künstlerisch war sie ein unerhörter Vorstoß in Neuland. Es fiel die Bemerkung, Filme wie Raging Bull und dergleichen seien ohne C. nicht denkbar. Cassavetes schien sozusagen ohne Schlaf ausgekommen zu sein, die totale Selbstverausgabung, Selbstverbrennung? Und hättet der Liebe nicht.
Ich mühe mich, jeden Tag ein wenig zu werkeln, nachts oft Verzweiflung, Einsamkeitsanfälle, Gefühl des Verratenseins – un homme trahi.
11. August 2003, Paris
Nach Lektüre des schönen Romans Hitze von Ralf Rothmann, in dem vor allem die überaus
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