Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)
bin, sowohl in Deutschland oder in der Schweiz vortragsreisenderweise weg und unterwegs bin, ich vermisse dann Frankreich sogleich, suche in den Radios und Fernsehapparaten der Hotelzimmer gleich nach französischen Sendern, suche Anschluß an die französische Sprache, an das Franzosengerede, ihren legeren Konversations- und Diskussionston, an deren Sport- und politisches Geschehen, an deren Tagesquatsch, deren Vorlieben, Lebensstil, Bordell, früher nannte ich es das KONKRETE in der Lebensauffassung und Lebensweise, die Absenz von falschem Tiefsinn, das Optieren für ein möglichst fröhlich zufriedenstellendes Leben, die anderen irdischen Freuden und Vorlieben, also wohl Werte. An die herrlichen Märkte, an die Omnipräsenz der erotischen Elektrizität in den Anspielungen noch in den ausgefallensten Fällen, an die Wertschätzung der philosophischen Entwürfe, an die wirklich ins Populäre vordringenden Segnungen der Bücher und Künste, ich glaube, der Schlüssel oder die Quintessenz von alldem darf Kultur genannt werden, das Diesseits ist schön, weil es nicht nur materiell begriffen, sondern kulturell besonnt und getragen ist. Das Kulturelle durchwächst das Alltägliche durch die Freuden des Essens und Liebens und Lebenverstehens hindurch. Und zu alldem gehört die Allgegenwart der Schönheit, ich komme gleich darauf zurück, der Schlüssel heißt Freiheit, Kultur als Produzentin von Freiheit, individueller Freiheit, Menschlichkeit fern von Verblasenheit und Theorie. Hier ist das Leben lebenswert für einen wie mich, weil um so viel facettenreicher, anstachelnder und freudeabstrahlender als anderswo, und der politische Diskurs dreht sich ja auch immer um die Verteidigung, Verbesserung der individuellen Qualität, das heißt Freiheit, das heißt Genuß, um das Diesseits. Und dennoch ist dieses Diesseits ja mehr als nur sichtbar getragen und durchwachsen von der französischen Geschichte; auch diese, als ein Gegenwärtiges, ist immer da im Gespräch, in der Luft, in den Parolen und Vermächtnissen der französischen Denker und Dichter, sie reden mit. Und das macht, daß man hierzulande knietief, wenn nicht bis zum Halse in »französischen Zuständen« geht und unterwegs ist, einem Kontinuum, einem Roman. Der französische Lebensentwurf hüllt dich ein bis zum Halse, er liegt auf der Straße, er ist verkörpert in der unnachahmlichen Architekturgestalt, diesem Schönsten, Hellsten, das sowohl die monarchische, die aristokratische Allüre und Lebenskunst, etwas Hochfliegendes, Reines, Endgültiges als Maßstäblichkeit, Geistigkeit? abstrahlt wie das von den Volkserhebungen erstrittene Lebenspflaster, eine entsprechende Inbesitznahme von Lebensraum und Lebensvielfalt, und hier tauchst du auf Schritt und Tritt ein in die von Literatur und Film und Chanson etc. gestiftete, weil vorinterpretierte, vorexerzierte Dimension des Traums, Lebenstraums, Gedächtnisses, diese Verlebendigung, die einen ansteckt mit Lebenslust und Unternehmungsmut – Trunkenheit, Trost. Für mich kommt zu dieser Lebensfülle das Refugiumanbietende hinzu. Nirgends ist für mich die Einladung zur Emigrantenexistenz schöner. Ich sage für mich und meine den Künstler oder das versprengte Glied der sogenannten Intelligentsia, und zwar im Unterschied zu den Zuwanderern aus Hungerländern oder repressiven Systemen, versteht sich, die in den Vorstadtgürteln unter zum Teil haarsträubenden Bedingungen zusammengepfercht bis ghettoisiert werden, hochexplosiven Zonen.
26. Juni 2003, Paris
Neulich nachts bin ich aufgewacht mit einem Glückstraum vor Augen; ich hatte mich seiner mehrfach vergewissert in wiederholten Versuchen, ihn mir (auswendig) aufzusagen, ich wollte ihn nicht nur nicht vergessen, sondern schreiben, veröffentlichen, darum ging es nämlich im Traume, und nun hatte ich ihn gepackt und wollte ihn nicht verlieren, und der Umstand, ihn an der Angel zu haben und infolgedessen hinschreiben zu können, gehörte zum Glücklichsein, im Traume; dies natürlich unabhängig davon, daß der Zugang (zum Schönsten?), den der Traum vermittelte, einfach atemberaubend war. Hier ein Analogon zum einstigen Glückstraum mit dem Einlaß ins Allerschönste in Rom – mit dem ich Das Jahr der Liebe beginne, obwohl jene Passage das Schönste natürlich keineswegs zu fassen vermag.
In diesem jüngsten Traume ging es um eine Autobahn, obwohl von Autobahn im herkömmlichen Sinne nicht die Rede sein konnte, ich befand mich ja eher in einer gigantischen
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