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Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Titel: Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nizon , Wend Kässens
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Schlendern unterhielten. Und nun gewahrten wir, am Fenster mit einem Blick aufs Meer und die Felsen, daß der Meeresgrund von Spaziergängern, Müßiggängern wimmelte; da unten war ein Treiben wie auf einem Bild von Brueghel, nur eben unter Wasser, die Leute ergingen sich fröhlich plaudernd in Gruppen, aber wohin? Es war die verkehrte Welt, etwas wenn auch nur von ferne Vergleichbares hatte ich zu Anfang der sechziger Jahre in Zürich erlebt, als der See zugefroren war und nicht nur von Spaziergängern, sondern auch von Vehikeln bevölkert. Eine Psychoanalytikerin meinte, Wasser bezeichne im Traume immer das Unterbewußte, in diesem Falle wäre es glasklar. War es nicht eher ein Jenseitstraum, dachte ich.
    Ich dachte es auch darum, weil ich kurz zuvor, wenn auch nicht in der selbigen Nacht vom Einschläfern geträumt hatte, besser: von Eingeschläfertwerden, dem definitiven. Ich befand mich in einer Art Vorraum oder Wartesaal an einem Tisch mit mir unbekannten Leute, darunter ein, zwei Personen, die wie Pfleger aussahen, allerdings schienen sie nicht im Dienst. Worauf warteten diese Menschen, wartete ich? Warum war ich überhaupt da? Ich scheine einigermaßen unbeteiligt, bin es aber nicht mehr, nachdem ich mir, mehr aus Nachlässigkeit als aus irgendwelchen plausiblen oder medizinischen Gründen, eine Spritze in den Unterarm hatte verpassen lassen (so wie es bei der Darmspiegelung in der Klinik geschehen war, als Narkose), aber jetzt ging es nicht um Narkose, was hatte man mir gespritzt? Beruhigen Sie sich, gleich wird die Wirkung eintreten. Welche Wirkung? Und nun wird mir bewußt, daß es sich um Einschläferung, Tötung handelt, daß ich ins Jenseits befördert zu werden im Begriff stehe, und ich brülle, man soll mir ein Gegengift verpassen, etwas, das die tödliche Wirkung aufhebt, ich will ja nicht sterben. Keine Reaktion seitens der Anwesenden, noch spüre ich nichts, aber die Angst ist da, Todesangst. Rundum steinerne Mienen. Beim Aufwachen fällt mir das Wort Euthanasie ein. Tiefe Verstörung.
    Ich hatte eine Menge Angst aus Gründen der momentanen prekären Finanzlage, die Bank hatte angerufen, das Kreditlimit sei entschieden überschritten, die Produktion stagnierte seit geraumer Zeit, mit der Einkommenspanik und den anstehenden Rechnungen stieg das Gespenst der Erfolglosigkeit empor, einer allgemeinen Ohnmacht, und all das vor dem Hintergrund der vielfältigen gesundheitlichen Probleme, der andauernden Konsultationen bei Ärzten und diese ganze Unsicherheit und Verunsicherung mischte sich mit dem Gefühl des Verlassenseins, ich war ja jetzt ohne Familie, ohne Hilfestellung, ohne Anhang mutterseelenallein in der Wohnung wie auf einer Endstation, von allen verraten und abgeschrieben. Ja, nicht nur verlassen, sondern verraten. Da war niemand, an den ich mich im Falle einer Notlage, etwa einer Attacke, wenden könnte. Vor diesem Hintergrund ist der Traum mit der Spritze im Kreise von versteinten Unbeteiligten wohl zu verstehen. Werde ich umgebracht, oder will ich mich ums Leben bringen oder aus dem Leben befördern? Das ist die Frage
     
    Und einige Tage zuvor hatte ich mich, in viel jüngeren Jahren, in Zürich, in einem luxuriösen, weil mehr als nur komfortablen Wohnbereich von Bekannten im Traume einigermaßen snobistisch bewegt, offenbar hatte ich freien Zugang zu diesen Privaträumen, die über einem von mir gelegentlich besuchten Restaurant lagen und dessen Besitzer gehörten. Der Besitzer war anwesend und schaute mir amüsiert zu, wie ich mich ziemlich geckenhaft aufführte und in ausgeklügelten ironischen Redewendungen, monologisierenden Ansprachen erging, die meinen Wegzug und definitiven Abschied zum Gegenstand hatten, ich glaube, es handelte sich um eine letzte Aufwartung vor meinem Auszug aus Zürich. Auch zwei überaus schöne, leicht bekleidete hosteßhafte Mädchen hörten und sahen mir zu, auch ihnen galt mein provozierender Auftritt, ich entdeckte echtes Bedauern in ihren Mienen, offenbar schienen sie mir nicht nur nicht unbekannt, sondern eher nahezustehen, sie mochten, ja liebten mich, wenn sie es auch nicht zum Ausdruck bringen wollten oder durften vor den Augen des Wohnungs- und Restaurantbesitzers. Während ich in akrobatisch gestelzten Redewendungen von vielsagender Kühnheit vor mich hin dozierte, sehr zum Vergnügen des Hausherrn, wußte und fühlte ich, wie es gewesen war, wenn ich bei früheren Gelegenheiten eben hier die eine oder andere an mich gekuschelt in Armen gehalten

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