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Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Titel: Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nizon , Wend Kässens
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Welt sind, und ich antworte aufs munterste.
     
    Ich bin wie eine wacklige alte Maschine, und mein Hauptgeschäft scheint mir neuerdings die Verarztung. Man denkt ja anders ans Sterben oder an den Ernstfall als früher, in meinem Alter, und der Umgang mit gesundheitlicher Schädigung wird zum erstrangigen Zeitvertreib. Bloß daß ich außerdem allerlei an Lesungen und Außendienst absolviert habe, Festival in Hall, Nähe Innsbruck (wo ich mit Gstrein und Gmünder zusammenkam), danach Lesung in Wien in Begleitung von Igor (Besuch beim schwerkranken Heini Reimann in dessen feudaler Botschafterresidenz) und zwei Radiointerviews. Danach in Paris ein Interview bei Radio France über Europa.
    All das ist Zeitvertreib und auch Geldbeschaffung (zumal letzteres), während die Scheidungsprozedur fortschreitet (was leider auch Geld kostet), und bald fangen die Umbauarbeiten an: Die Duplexwohnung wird wieder in zwei Stockwerkwohnungen überführt, und Odiles untere Etage kriegt Küche, teilweise neues Parkett und eine von der meinen abgetrennte Heizung; Kosten noch und noch. Und zu Ende der kommenden Woche bin ich zu zwei öffentlichen Diskussionen im Dürrenmatt-Center in Neuchâtel angesagt, Veranstaltungen über Sexualität zusammen mit Robbe-Grillet, Catherine Millet u.a. einerseits und über Dürrenmatts Havelrede zusammen mit Loetscher etc. andererseits. Andere Veranstaltungen stehen für Dezember bevor. Ärzte und Außendienst sind mein Alltag, ein merkwürdiges Leben.
    Igor in seinem Internat. Odile wieder nähergerückt, sie scheint die untere Wohnung, sobald abgetrennt und ihr scheidungsgerichtlich zugesprochen, wieder bewohnen zu wollen. Zur Zeit wenig Spannung zwischen Scheidenden, kein Haß meinerseits.
     
    Montag fahre ich zur Kremation und Bestattung von Robert Müller in die Vorstadt, er war ein guter Freund, ein schon fast lebenslanger, er war Trauzeuge meiner letzten Heirat, 1980, er war mir in jüngster Zeit wieder nähergerückt, und als plötzlich die Nachricht kam, er liege schwer krebskrank und mit Metastasen im Krankenhaus, war es wie der buchstäbliche Schlag aus heiterem Himmel, ich wußte, jetzt stirbt er, und er wußte es auch, er hatte die letzte Fahrkarte erhalten.
    Er scheint nach Rückschaffung in sein Domizil kaum mehr groß reagiert zu haben, es hieß, er dämmere, ich denke, er machte sich innerlich reisefertig, in seinem Fall kein Todeskampf wie bei meiner Großmutter oder wie Dürrenmatt es von Varlin sagte, den er den zornigsten Sterbenden nannte, jedenfalls sprach Miriam weder von Leiden noch von Aufbegehren, nur von Entfernung, er habe nicht mehr groß reagiert, aber selten einmal gelächelt. Er war ja schon sehr lange immer ein wenig anderswo und mokierte sich über die Fleißigen, Drauflosschaffenden unter den älteren Künstlern, er hatte schon seit einiger Zeit etwas von einem verschmitzten Weisen oder Zenmeister, auch hatte er sein Haus bestellt, wie es heißt.
    Er schien schon des längeren auf einem Rückzug, jedenfalls weg von den Geschäften, und ich war immer der Jüngere, ich meine der sinnlos immer noch Geschäftige, mit allem möglichen immer noch im Unreinen, also fast eine komische Figur, jedenfalls kam ich mir so vor, wenn ich bei ihm war und mitsamt Miriam am langen Tisch, den ich den Refektoriumstisch nannte, zum Essen und Plaudern zusammensaß. Wir hatten uns glücklicherweise nicht aus den Augen verloren. Ich wußte, daß er starb, und ich glaube, ich habe im Moment seines Weggangs gedacht, jetzt stirbt er.
    Und jetzt ist er nicht mehr, nurmehr in Erinnerung einiger Nahestehender und in Museen und in Lexika.
    Alles geht seinen Gang, sagt der Erzähler in der Forelle , ja, auch das Sterben gehört in diese Rubrik. Vor kurzem ist Hans Schweingruber erloschen. Nach der telefonischen Vermeldung seitens Miriams soll Robert kommenden Montag früh am Morgen in Gonesse eingeäschert und nach einer quasi trostlos und ohne Zeremonien stattfindenden Fahrt seine Asche auf einem anderen Friedhof, dem letzten Bestimmungsort, beigesetzt werden. Anschließend fahren die Söhne gleich in die Schweiz zurück, wenn ich alles richtig verstanden habe. Keine Gedenkstunde, keine Totenfeier, nichts.

    24. Oktober 2003, Paris
     
    Ist mir unterwegs im Bus eingefallen, daß MARIA, die Immaculata, nicht mein Engel, nicht mein Fatum, nicht einfach LA PASSANTE, sondern meine Muse war. Die mich nicht nur in Rom einließ und unterwies, sondern die mir Rom erleuchtete mit ihrer letztlichen

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