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Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Titel: Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nizon , Wend Kässens
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Eisenkonstruktion nicht nur von Brückenverstrebungen, sondern von Hochbauten, wahren Wolkenkratzerkonstruktionen, wenn auch das Bild der Käfige, die die Konstruktion freilegte, sehr wohl zu einer Hochbahn gehören mochte. Nun, hinzu kommt, daß mein Standort einen Kreuzungspunkt in dem ganzen System von Konstruktionen bezeichnete, eine Verzweigung, ja, ich war an einer Kreuzung, hoch in den Lüften, und unter und neben mir gingen auf vielen Ebenen die tumultuösen Straßen weiter. Es mochte sich um eine gigantische mehrstöckige Hochbahn handeln, und alle Ebenen und alle Geschosse vibrierten von Verkehr und vor allem von Geschehen, von Lebensintensität, und das Ganze spielte in Lüften, Höhenlüften einer Riesenstadt, war von Lärm und Lauten und Luft und Gerüchen und Himmel gesättigt, es hätte Los Angeles sein können, jedenfalls Amerika, und ich war nun an diesem Kreuzpunkt der himmelschreienden, labyrinthischen Hochbahnkonstruktion, die gleichzeitig ein Gebilde wie von tausend Kranen war, Aussicht spendend, wenn auch dröhnend von Geschehen und vor allem Verheißung, und im Traume wußte ich nicht nur, wo ich war und was mich an atemberaubender Lebensverdichtung umgab und blendete, sondern ich wußte, wie die ganze verrückte himmelschreiende Konstruktion dieser surrealen Autobahn de facto verlief und als Konstruktion funktionierte, und dieses Wissen um meinen (imaginären, wenn auch im Traume faktischen) Standort löste einesteils das Glück aus. Ich war also mittendrin im Unfaßlichen und wußte ganz genau um meinen Schnittpunkt, also war ich im Herzen nicht nur dieser verrückten Lebensverdichtung, sondern ich war die Mitte, der Strahl, das Innesein, und alle Verheißung rundum war somit erreichbar, ich der Innepunkt, ich der Inhaber, ich der Gesättigte, ich im Erreichbaren. Alles war mir zugefallen, und jetzt konnte ich es schreiben, ich wußte auch, für wen ich es schreiben würde, für welchen Abnehmer, Adressaten, welches Organ. Und schreibend würde ich mich nicht nur meiner Aufgabe unterziehen können, sondern doppelt und dreifach in den Genuß der Welten- und Lebensflut in der Verdichtung gelangen. Es war das doppelte Glück: das der himmlischsten Genüsse von Welt- und Teilhaben und das des unbezweifelbaren Gelingens. Und dann wachte ich auf mitten in der Nacht, überwältigt, und konnte nurmehr fern und schwach ein Nachzittern des Erlebten empfinden, das mit gigantischer Stadt und Ozeanen zu tun hatte.

    27. Juni 2003, Paris
     
    Der frühe Blick
     
    Neulich sah ich vor mir den beflaumten Arm eines sommerlich bekleideten Mädchens, eines halbwüchsigen aus meiner Schulzeit? Und der Arm lehnte auf der hölzernen Veranda eines Ferienhauses, und ich konnte das Selbstvergessene in der Haltung – fern von Lockung – und gleichzeitig das Erregende für den damaligen (halbwüchsigen) Voyeur nachempfinden und mithin die Schwelle zwischen Selbstvergessenheit und Anziehung, ein Emporkräuseln von unschuldiger Erotik, denn das bißchen Nacktheit damals war ja die strikteste Natürlichkeit und dennoch potentielle Verführung. Und so gehörte das Mädchen noch ganz seinem Mädchenleben, Kameradinnendasein, Elternhaus, also einem normalen Behütetsein (noch sehr weit vom Sündenfall) an, und gleichwohl bahnte sich in der Erregung des Hinschauenden schon die Liebe an, eine Vorwegnahme der Liebe, und damit das Überlaufen aus der Kindheit in die Nöte und die fürchterliche Freiheit des Erwachsenwerdens. Diese Schwelle in einem Blick empfunden, diese Schwelle zwischen flaumiger Pubertät und drohender Ausstoßung aus dem Garten der Kindheit.

    9. Juli 2003, Paris
     
    Traum
     
    Ich stand – neben Odile? – an einem Fenster mit Blick aufs Meer und Klippen, Kreidefelsen (könnte von Fécamp inspiriert sein) und sah einen großen vollbesetzten Wagen die Felsenklippe herunterfahren und dies in einem Neigungswinkel, der nur Unheil versprechen konnte; und entsprechend gebannt und entsetzt sah ich der mörderischen Fahrt zu. Es gab natürlich kein Anhalten, Ausweichen, Abzweigen, es endete unausweichlich in der Katastrophe: Der große Wagen stürzte mit seinen Insassen kopfüber ins Meer. Wir blieben erstarrt am Fenster, zufällige Zeugen eines schrecklichen Unfalls. Nur daß da unten auf dem Meeresgrund – das Wasser war glasklar wie Trinkwasser – die Passagiere unbehelligt, soviel wir sahen, ausstiegen, als sei nichts geschehen und dahinzuschlendern begannen, müßige Spaziergänger, die sich im

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