Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)
Rätsel bleibt gewahrt. Und dennoch oder gerade darum steigt aus Yourcenars Darstellung das Parfum einer von höchstem Mut getragenen Reinheit empor, die Duftspur eines mönchischen Hungers nach höherem Sinn oder nach Offenbarung, in diesem Sinne das Unbedingte einer poetischen Erfüllung. O ja, eine Art Sekunde von Leibwerdung höchsten Begehrens oder Statuierens, ich kann es nicht sagen. Es verschlug mir den Atem. Das Martialische und das Reinheitsstreben, das eine im andern.
Ich lese wieder.
11. Juni 2005, Paris
Mit Leonid auf einem Morgenspaziergang durch die Tuilerien beim unteren Brunnenbecken, nein Bassin, da, wo die Gärten sich auf die Place de la Concorde öffnen, auf eine Menge tief jagender Schwalben gestoßen. Sie flogen tief, weil die Lufttemperatur morgendlich kühl und vermutlich das Wasser wärmer und darum die Mücken knapp über dem Wasserspiegel westen, jedenfalls jagten sie in herrlichen Kapriolen über dem Becken, sie pfeilten in einem schwarzen Aufruhr durcheinander, ich konnte mich nicht losreißen von dem herrlichen Tumult, einem ansteckenden Überschwang. Nie hatte ich sie so nah, so zahlreich auf engem Raume, so entfesselt, so rauschhaft erlebt. Dagegen die Stare, die auf den Rasenflächen wie winzige Hühner wirken, wenn sie eifrig vor sich hin picken: auch sie Zugvögel, aber nun, ausgehungert nach der langen Reise, beim Auffuttern, niedliche Wurmsucher, eifrige Sammler, unansehnlich.
Ja, die Schwalben gehören auch zu meinen Gottheiten. Im Fell der Forelle spielen sie auch eine Rolle – neben den ärgerlichen Tauben. Alle Vögel, auch Zugvögel, haben ein – manchmal lächerlich anzusehendes – Erdenleben, nur die Schwalben nicht, die im Himmel wohnen.
28. Juni 2005, Paris
Schon einige Tage diese Hundstagehitze, über dreißig Grad ohne nennenswerte abendliche Abkühlung. Schon in Graz bei der Canetti-Tagung – zum hundertsten Geburtstag – war es so. Ich hatte meinen Vortrag eben gerade noch hingekriegt, eine kleine, nicht sonderlich gelungene Sache, wohl darum, weil ich innerlich ein ziemlich heikles Verhältnis zu Canettis Werk und Gesamtprogramm habe, ein widersprüchliches bis widerspenstiges, mit Ausnahme der Essays und der Stimmen aus Marrakesch . Andere Beiträge – Klaus Hoffer, Herta Müller, Schuh – hatten ein anderes Kaliber. Im übrigen war meine Teilnahme an dem Meeting entspannend, weil sie mich aus meiner Überheblichkeitsattitüde (aus Gründen meiner Isolation) befreite, besonders Hoffer hatte es mir angetan. Wunderbar der Besuch im Skulpturengarten, einer herrlichen Gartenarchitektur, worin die riesigen Plastiken aufs schönste eingebettet sind. Ich ging hin, um Wotruba, den engen Canetti-Freund, den »Zwillingsbruder«, anzuschauen. Also hat er es fertiggebracht, sich dem Jahrhundert einzuschreiben, einzuwuchten, der Canetti.
Als ich nach dem langen Flug, über München, in Paris-Roissy anlangte und durch die Pforte mit Aufschrift »Nichts zu verzollen« schritt, holte mich ein Zöllner aus der Kolonne und verlangte den Paß (einigermaßen erstaunlich bei der heutigen europäischen Freizügigkeit) zu sehen. Nizon, Paul Nizon, l’écrivain, meinte er und fügte Canto hinzu. Nicht zu glauben, dachte und murmelte ich. Ja doch, sagte er und erwies mir die Ehre. Eine schöne Heimkehr.
Man kann schlecht schlafen bei dieser Hitze, ich lese, Maeterlinck, Esoterik und Leben der Ameisen , derlei weit Abliegendes. Das gespaltene Verhältnis zu Canetti macht mir zu schaffen, wohl aufgrund dieses todernsten, immerpräsenten und auch etwas überheblichen Engagements , das ihn zu einer Instanz machte und später zu der im Weltmaßstab applaudierten öffentlichen Figur. Dahingegen mein Weltvagantentum plus Einsamkeit, die Lebensgefräßigkeit und allenfalls die meinem Irren abgerungene Existenzmaske. Oft Anfechtungen bezüglich der Wertbeständigkeit oder auch nur Bedeutung meines geleisteten Beitrags, des Rangs.
Ich stelle erfreut fest, daß mich Begegnungen mit guten Autoren, zweifelsfrei bemerkenswerten, von meiner Hagestolzigkeit befreien. Wird man bleiben? Literarisch überleben? Oder ins Vergessen fallen? Verunsicherung altersbedingt? Ein Stachel. Beim Zusammensein mit guten, mit erstaunlichen Autoren fällt diese peinigende Frage weg oder löst sich auf im Klima eines gegenseitigen Respekts.
23. Juli 2005, Paris
Zweierlei. Kürzlich war Jocks da, wir kamen auf unser öffentliches Gespräch in Basel – Gegensatz autobiographische
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