Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)
die eine oder andere Serviererin, in meiner Erinnerung eher hübsche und keß uniformierte Mädchen, er hat mich der einen oder anderen auch vorgestellt.
Die Wohnung war bescheiden und mit eher massiven, gutbürgerlichen Möbeln bestückt, sie machte nicht viel von sich her, es gab keine besondere Stimmung oder Wohnatmosphäre, nichts Beeindruckendes; was mich erstaunte, war der Umstand, daß Canetti mir Armagnac anbot, wie er mir später in der ebenfalls bescheidenen Wohnung an der Zürcher Klosbachstraße Whisky vorsetzte, er wußte, ich trank ihn gern – er trank damals nicht mehr, wie er ja auch nicht mehr rauchte, sich aber gerne von mir eine Zigarette reichen ließ, die er nie anzündete, sondern in den Fingern hielt und herumdrehte. Um auf den Menschenerklärer zurückzukommen: Er imitierte, karikierte, demaskierte schonungslos, wenn er nicht überhaupt vivisektionierte, nun, er schlüpfte in die Haut der anderen, es war Aneignung, es war Verwandlung, ein Wort, das ihm für den Dichter zentral erschien, wie jedermann weiß. Wenn es nicht überhaupt das war, was den Menschen vom Tier unterschied. Man könnte die maßlose Neugier fast schon erotisch nennen, ich denke, er hat nicht nur ein Bestiarium aus seinen Anverwandlungen gewonnen, sondern darüber hinaus ein phantastisches Spektrum aus anatomischen Organen, weniger ein Linnésches System der Arten als ein barockes Metamorphosen-Pandämonium, aus welchem Grundmaterial wohl einiges in die Aphorismen eingegangen sein dürfte. Er war kein wertfreier Wissenschaftler in der Menschenerforschung, er konnte hassen, er war Partei, er war, wie mir sehr bald aufging, eine moralische Großmacht, nicht einfach ein Moralist. Er war der Feind der Dekadenz, das war wohl auch sein Abstand zu Thomas Bernhard und überhaupt zu allem Todessüchtigen und Morbiden, er war ein Lebensmonarch, ein Menschenfreund wenigstens in seiner verantwortungsmäßigen Ausrichtung, darum auch ein Hasser des Niedrigen, nicht der Schwachen, dies überhaupt nicht, ein Hasser menschlicher Niedertracht.
Er war auch ein großer Lacher, nie hämisch, das Lachen war herzerwärmend. Es wurde von vielen bemerkt, wie gut oder besser wie dringlich, nicht nur ermutigend, sondern schon fast magisch sein Zuhören war. In meinem Falle war das Zuhören oder ebendiese gespannte Aufmerksamkeit zungenlösend. Wenn ich mich recht erinnere, haben wir uns mit Vorliebe Menschen, Personen, erzählt, übertrieben ausgedrückt: Charaktere – wenigstens war das die Zielrichtung des Interesses. Ich habe auch immer sehr viel erzählt oder eben charakterisiert; und von ihm habe ich bei solchen Gelegenheiten manches gehört, das ich später in seinen Erinnerungsbüchern nachlesen konnte. Ich glaube, er ging in meinem Falle so weit, mir eine Begabung für Figurenzeichnung attestieren zu wollen, was mich darum erstaunte, weil ich mich für einen Erzähler nicht nur ohne nennenswerte Handlung, sondern auch ohne markante Figuren hielt; mein Interesse lag anderswo, nämlich in dem, was die Franzosen heute das Autofiktionale nennen. Und natürlich im Sprachkünstlerischen. Er sah sich diesbezüglich als einen anspruchslosen Schreiber, ich meine, natürlich war er kein auffallender Sprachmensch, wenn man von seinem dramatischen Temperament absieht, von dem, was er als Sprachmaske bezeichnet, er war, wie mir bald einmal aufging, darum nicht weniger Stilist. Er schrieb eine blanke klare rasche Prosa, eine reine Münze. Es war neben dem Verschwenderischen, dem abwägend Prüferischen, der Grenzenlosigkeit seiner Interessen, seiner Neugierde und Lebenslernfähigkeit, der Überzeugungskraft seiner Werturteile, seinem tiefen Wissen auch etwas Koboldisches in seinem Wesen und natürlich, was ich lange übersah, auch das Abgründige. Ich sah ihn nämlich – und das war eine von meiner Verehrung diktierte Halbblindheit – lange als einen Kopf ohne Leib, vor allem ohne Unterleib, als eine Art direkt der Stirne des Zeus entsprungenen Streiter mit dem Schwert; und übersah die innere Schlangengrube. Vermutlich wollte ich ihn so sehen. Ich kann nicht sagen, daß mir die Enthüllungen in dem posthum erschienenen Erinnerungsband Party im Blitz das Canetti-Bild verschmierten, im Gegenteil, sie machen mir den vermutlich idealisierten, aus den menschlichen Niederungen herausgehaltenen oder besser ausgesparten Dichter letzten Endes glaubhafter.
Als ich ihn 1964 kennenlernte, zufällig, in der Kronenhalle in Zürich war es, war er nicht nur mir,
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