Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)
Enthüllungen ihrerseits, ihr unerwachsener Geliebter wird. Doch zum Schluß, nachdem er durch sie zum Erwachsenen und gewissermaßen entjungfert worden ist, wendet er sich mit dem probaten Mittel finanzieller Entschädigung auch von ihr ab. Ihrerseits ein ganzer Packen herbster Enttäuschungen, gesellschaftsprobat; für den Jungen eine Erfahrung vorausgenommenen Mannestums. Das Mädchen ist das Opfer der Usancen, der Junge ist an ihr gewachsen. Ich mußte an Maria denken, weil auch sie natürlich in ähnlicher Lage wie das von Claudia Cardinale gespielte Mädchen, alle Hoffnung in den jungen Ausländer meiner Machart gesetzt haben mag und wie sie von ihm nicht nur enttäuscht, sondern getäuscht worden ist. Viel ehrlicher und humaner wäre die Rolle des brutalen Einkaufs der jungen Frau, unter Absehung von Verständnisinnigkeit und Sentimentalität gewesen. Der Körpereinkauf, das Tauschgeschäft. Stattdessen diffuse Aussichteneröffnungen, ein scheußlicher Mißbrauch, im Grunde das Benehmen des potenten kaltblütigen Kolonisators einer armen hübschen Einheimischen gegenüber. Das Scheußlichste ist der Mißbrauch der Gefühle. Das sollte in einer allfälligen Wiederaufnahme der Thematik eine nicht zu billige Rolle spielen. Es wäre die Geschichte eines Mißbrauchs, eine letztlich unmenschliche Geschichte.
30. Juli 2005, Paris
Immer noch in der Jugendforschung. In der Gymnasialzeit und danach (bis zum Studium, wenn nicht bis Rom) finde ich nichts von Zerquältheit, eher Hochgestimmtheit und Kraftgefühl, Selbstgewißheit, getragen von einer Art künstlerischen Bestimmung. Natur spielt eine große Rolle, dies im romantischen Sinne, sowohl als Sehnsuchtsspeicher als auch als Seelenspiegel. Das schlummernde Gefühl des vorbestimmten Weges. Die geistigen Interessen heißhungrig. Einzelgängerallüre aufgefangen durch die Pflege der Freundschaften. Es scheint, daß mir die Freunde Bestätigung vermitteln, wenn nicht eine Vorrangstellung einräumen. Das Grüblerisch-Nachdenkliche ist ausbalanciert durch überschäumende Vitalität, Phantasieausbrüche, mitreißende Unterhaltungsqualitäten, eine Art Brillanz. Alles in allem Festigung der Einzelperson. Wobei das Potential nicht unbedingt in Talentproben, eher als Anlage, als Versprechen, summarische Begabung zum Ausdruck kommt. Entsprechende Führungsrolle bei Schwester, Mutter, Kameraden, Susi B. und anderen Nahestehenden. Das hält vor in der frühen Studentenzeit, in der Assistentenzeit im Museum, in der eigenen Familie und deutschen Verwandtschaft, hält vor bis Rom, eigentlich bis van Gogh und zur Publikation des Erstlings Die gleitenden Plätze . Nicht zu vergessen die bei der Leserschaft hochangesehenen Kritiken in der NZZ . Hält vor bis zu Canto , der ein Summum an Verwegenheit, wenn nicht Arroganz genannt werden darf.
Im Gegensatz zu alldem: die negative Sicht auf Kindheit und Familie im nächstfolgenden Buch Im Hause enden die Geschichten und wiederum in Stolz . Die Fiktion behandelt die Lebensstoffe auffallend pessimistisch, ja nihilistisch. Wie kommt es zu dieser negativen Interpretation zumal in der Rückschau? Und inwiefern wäre der negative bis böse Blick auf das Gelebte künstlerisch fruchtbarer gewesen als der affirmative? Es wäre billig zu bemerken, daß ich die »dämonischen« Aspekte vorgezogen hätte. Ich denke, in existenziellem Sinne schien mir die Aufdeckung des Brüchigen oder Verdrängten oder der tiefinneren Melancholie aussichtsvoller, nicht einfach interessanter, sondern fruchtbarer, wohl auch zeitgenössischer, vor allem wahrhaftiger, echter als jeder andere Blickwinkel. Wobei gleich anzufügen wäre, daß eine andere Optik wohl zu nichts geführt hätte, zu nichts Neuem, nichts Tragfähigem.
Die Verwundung muß im Alter zwischen zwölf und sechzehn stattgefunden haben, noch vor dem Gymnasialalter. Das Gift wurde in jener Periode geschluckt, und die Ausrichtung auf die geistigen bzw. künstlerischen Horizonte war zu Teilen Sanierung Rehabilitierung Selbstrettung. Ich sprach im Zusammenhang mit den Gleitenden Plätzen und der vorrömischen Zeit von einem idealistischen Korsett. Und genau dieser künstlich oder doch willentlich applizierte Idealismus, das Bedürfnis nach einer in einem Glaubenssystem aufgehenden Ganzheit , einem Überbau, hinderte mich beim schreiberischen Loslegen, weil das Leben, so wie ich es empfand, nicht in einem solchen aufging; es waren Hindernisse, die ich mir in den Weg legte, schon fast Fesselungen.
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