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Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Titel: Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nizon , Wend Kässens
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Vorbild. Was mich bestärkt haben mag, war die WERKidee. C. hatte sich seinem Werk, hier insbesondere Masse und Macht , wie einer Mission (menschenretterischen Mission, hat man den Eindruck, weil er es in diesem Sinne hervorhebt) in den schwierigen Umständen des Kriegs unterzogen. Im übrigen betonte er mehrmals, daß Masse und Macht der Schwerpunkt seines Gesamtwerks sei. Hat er nicht wie in einem Laboratorium der Menschenkunde nach dem »Erreger« geforscht?
    Canetti bot mir Argumente für das eigene Unterwegssein und Durchhalten – Argumente und Bekräftigung. Was mich an Canettis Werk überdies persönlich betraf, war das in das Prosageschehen eingeflochtene Reflexive oder auch Essayistische, eine Mischform, die ich ganz zu Anfang des eigenen künstlerischen Unternehmens bei Hermann Broch, insbesondere seinen Schlafwandlern , kapiert und gelernt hatte. Von Broch über Canetti führte also entgegen meiner obenstehenden Bemerkung der verschiedenen Familienzugehörigkeiten sehr wohl eine Linie zu mir. Das Essayistische oder die stilistische Mischförmigkeit des prosaischen Vorgangs schließt natürlich Joyce ein. Und viel später Malcom Lowry.
    Und bei allen genannten Autoren läßt sich, ob im positiven oder negativen, eine Art religiöse Dimension ausmachen.
    Damit im Zusammenhang die hohe Einschätzung der Kunst und insbesondere von Dichtung und Dichter – im Gegensatz zur modischen antielitären populären Factory -Auffassung solcher Tätigkeiten.

    11. Mai 2005, Paris
     
    Bin neulich mit einem seltsamen Schmerz aus einem Nickerchen aufgewacht. Ich sah im Traum eine Freundesgruppe irgendwo beim Tafeln vor mir, Freunde aus der Zürcher Zeit, Otto Müller und Trudi Demut, Paul Eppstein, Teddy Richard, Künstler, Intellektuelle, sie gehörten auch ein wenig zum Kreis von Elisabeth Plahutnik und Hans Schweingruber, vor allem gehörten sie zu meinem damaligen Umgang; wichtig schien mir im Traume, daß es ein Aufgehobensein bedeutete, wenn ich so im Vorbeigehen oder anläßlich eines Festes, einer Vernissage in so eine Gruppe einfiel, mich gutmütig frotzeln oder einfach willkommen heißen ließ, ich war ja willkommen, weil ich zu ihnen gehörte, wenn auch mein Leben in anderen Bahnen verlief und vor allem hinaus und von ihnen und Zürich weg tendierte. Was mir aufging, war das Kapital des Wohlwollens, von Freundschaft und Solidarität, wenigstens in gewissen Grenzen. Und dann das nicht hoch genug einzuschätzende Voneinanderwissen, fast schon jeder des anderen Gewissen. Ich sah es wie Lagerfeuer im Wilden Westen, bei welchen der einsame Reiter absteigen konnte und mit Gastfreundschaft und Proviant rechnen durfte. Und was schmerzte war: daß diese Lagerfeuer nicht nur erloschen, sondern aus der Welt verschwunden waren zusammen mit den Toten. Denn all diese Freunde sind tot. Der Schmerz ein Kältestich, die eigene Gottverlassenheit. Wehmut.
     
    Die Lektüre von Marguerite Yourcenars Mishima ou La vision du vide hat mich merkwürdig berührt, nicht einfach aufgewühlt, sondern tief getroffen. Es ist dieser scheinbar absurde Opfertod, nach den Riten der alten Samurai-Tradition vollzogen, mit anschließender Enthauptung durch einen Todessekundanten, der sich nach erfolgter »Dienstleistung« selber hinrichtet, der Sekundant ein schöner junger Mensch, Mitglied von Mishimas paramilitärischer Garde; das Ganze vor den Augen eines Armeekorps … Es ist dieses nach strengen Regeln einer alten kaiser-, das heißt gottesfürchtigen Auffassung vollführte, beinah an den Gekreuzigten gemahnende grausame Selbstopfer, absurd schon darum, weil die entsprechenden Werte in unserer Welt und Gesellschaft keine Rolle mehr spielen. Eine gegen die Sinnlosigkeit bis zum äußersten Heroismus ankämpfende sinnlose Tat, sinnlos besonders darum, weil Mishima ja keineswegs ein in einem rückwärts gewandten Wahn befangener Mann ist, sondern, zu Teilen wenigstens, ein moderner Mensch, der u. a. in Amerika gelebt hat und die ganze westliche Literatur, auch die zeitgenössische, kennt; ein moderner Mensch und erfolgreicher, äußerst produktiver Schriftsteller, auch Theatermann, nobelpreisverdächtig, zudem verheiratet und Vater von zwei Kindern, zum Zeitpunkt des Todes fünfundvierzig Jahre alt. Yourcenar rückt der Frage der Beweggründe in subtilen Analysen des Werks, aber auch mit Hilfe sparsamer biographischer Sondierung zu Leibe, sie kommt zu keiner schlüssigen Erklärung, natürlich, sondern zu einer behutsamen Einkreisung, das

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