Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)
familiären Anmaßung oder Fassade herrührend wie vom geistigen Anspruch. Zerrissen zwischen Minderwertigkeitsanfälligkeiten und Arroganz, genau wie bei meiner Schwester, ja, noch bei Tamara. Der früh entzogene heimische Grund.
Vielleicht ergibt sich aus diesen Materialien die Buchidee für ein Kindheitsbuch ( Traits et Portraits. Collection Colette Fellous, Mercure de France). Und die überdimensionierte Liebe zu Paris kommt auch daher. Hier bin ich aus eigenen Kräften emporgekommen. Da gehöre ich hin.
26. Juli 2005, Paris
Der frühe Blick
Bin vollkommen in das Lesen und teilweise Wegschmeißen der frühen (Kindheit und Gymnasialzeit) Zettel, Notätchen, Korrespondenzen (mit Schulfreunden, Mädchenlieben) bis und mit Rekrutenschule (Mutter, Großmutter, Schwester) inkl. Landdienst vertieft. Bei den Schulfreunden handelt es sich um Braaker, Hohl, Blaser, Lomo Fränkel. Bei den Erwachsenen um Susi (Baumgartner) und den Deutschlehrer Max Moser, nicht zu vergessen Viktor Asper.
Die schriftlichen Zeugnisse sind überaus ungelenk, keine Talentproben, jedoch geht, zu meinem größten Erstaunen, sowohl aus der Selbsteinschätzung wie aus der Haltung und bisweilen bewundernden Replik der Außenstehenden hervor, daß ich in der Literatur »lebe« und alles in allem ein Poet in spe bin. Der poetische Ausdruck, wenn man denn überhaupt in solchen Termini zu sprechen wagte, ist Anlehnung an die romantische deutsche Dichtung. Auffallend die ethische Note, der moralische Selbstanspruch, etwa in den an die arme Buffetdame Dori gerichteten Zeilen. Ich scheine mir in einer protopoetischen Brutstätte weniger aufgehoben als ganz und gar gefangen, verzaubert gewesen zu sein und insofern in einem innerlichen Zweitleben; eine merkwürdige Ausgabe eines in altmodischer Weise auftretenden Mörike- oder Sturm-und-Drang-Jünglings, fast bis zur Karikatur, möchte ich hinzufügen. Was etwa meine um mindestens zwanzig Jahre ältere Gönnerin, Verehrerin und (bis zu einem gewissen Grade) Geliebte Susi Baumgartner, Berufsmusikerin, Sängerin, in eine Adorantin verwandelte. Ich muß wie ein Auserwählter oder Wunderkind auf manche gewirkt haben. Auffallend und in meiner Erinnerung verdrängt: der familiäre Kokon oder Klebestoff, eine verwunderliche Anhänglichkeit an Großmutter, Mutter, Schwester, auch an den alten Pensionär Emil Rötlisberger, Gopfried genannt. Ein wahres Nesthäkchen. Was auf eine glückliche Kindheit schließen ließe, ganz im Sinne meiner Schwester; und bestimmt im Widerspruch steht zu den in meinem Haus -Buch zum Vorschein kommenden Beleuchtungen, Einschätzungen. Ich frage mich, wie ich mich aus den heimischen Verwicklungen, wenn nicht Verwunschenheiten, ich könnte auch sagen: aus der Nestwärme zu dem Erwachsenen meines Namens und meiner Bücher freigestrampelt, also emanzipiert habe (zu dem Pessimisten, finsterlichen Gesellen, Existenzialisten).
Gestern La fille à la valise ( La ragazza alla valigia ) von Zurlini, einen Film von 1961, gesehen, wobei die Rolle der blutjungen Claudia Cardinale beinah hautnah meiner römischen Maria auf den Leib geschnitten scheint. Sie ist ein Nachtgeschöpf, möglicherweise Sängerin in einer Gruppe, provinziellen oder dilettantischen Band, auch sie mehr oder weniger Dilettantin, ihr einziges Kapital ist ihr Aussehen, die Jugendlichkeit. Dabei hat sie, wie sich später herausstellen wird, bereits ein (in einem Heim untergebrachtes) verstecktes Kind, unehelich natürlich – was sie zwangsläufig zu einer Art von Prostituierten macht und deklassiert. Und nun ist sie dem nichtstuerischen Sproß aus reicher alter Familie begegnet, der sie unter falschen Versprechungen vernascht und (im noblen Sportwagen) mitgenommen hat und einzig darauf aus ist, sie möglichst schnell loszuwerden. Was denn auch gelingt, nur daß das Mädchen nicht aufgibt, sondern ihm nachstellt, und zwar bis vor den Palazzo seines angestammten Heims, wo sie abgewimmelt wird, jedoch auf den jüngeren Bruder stößt, der sich in sie verknallt, in rührend besten Absichten, ein sechzehnjähriger Retter, Unschuldsengel, Aristokrat, Meilen über ihr stehend, ein Muster an Wohlerzogenheit, die Anteilnahme, die Feinfühligkeit in Person, nun. Das Mädchen klammert sich an die Hoffnung ihres verlorenen Verführers, an die Hoffnung überhaupt, während der kleine Bruder rapide in eine seinem Alter nicht zustehende Beschützerrolle hineinwächst und letztendlich, nach weiteren Enttäuschungen und
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