Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)
sondern so gut wie jedermann im deutschen Sprachraum unbekannt. Als erstes las ich Die Blendung, danach Masse und Macht . Ersteres ein Jugendwerk und vielleicht ein Jahrhundertroman, letzteres eine polydisziplinäre, absolut eigenwillige Privatforschung unter Beiziehung von Mythen, Sagen und jeder Art von Menschheitszeugnissen, »um das Jahrhundert an der Gurgel zu packen«, wie er sagt, zumindest in dem für eben das Jahrhundert zentralen Problematik des Massenphänomens (mit dem sich auch schon Hermann Broch befaßt hatte). Ich las Die Blendung einigermaßen hingerissen, wenn mir das Allegorische oder besser das tendenziöse Arrangement wesensmäßig eher fremd war. Was mich überraschte, aber zu Canettis Übertreibungshang paßte, war die Bemerkung, daß Die Blendung als erstes Buch eines auf acht Bände angelegten Zyklus konzipiert war. Was mich heute noch ebenfalls erstaunt, ist das Heterogene dieses Werks: ein einziger Roman, drei Theaterstücke, das philosophisch sozioanthropologische Grundlagenbuch ( Masse und Macht ), das mit den Fachwissenschaften umgeht wie ein Rechner, der sich im Zeitalter der raffiniertesten Computertechnik mit etwas wie dem Zählrahmen den heikelsten, weil vielschichtigsten Problemen nähert und u. a. der ganzen psychoanalytischen Wissenschaft spottet. Das Selbstdenkerische ist so erstaunlich, auch die Respektlosigkeit den ganzen etablierten Fachwissenschaften gegenüber resp. Wissens-KIRCHEN. Wobei sich natürlich herausstellt, über welch umfassendes Quellenwissen Canetti verfügt. Was ihn von der etablierten Forschung unterscheidet, ist der unverschämte, quasi naive Zugriff des Selbstdenkers. Darum ist Masse und Macht lange und vielleicht bis heute von den Vertretern des Fachs als eine Art Scharlatanerie oder doch Dilettantismus rezipiert worden. Außerdem: Aufzeichnungen, Aphorismen, Lebenserinnerungen. Der Autor dieses einmaligen und merkwürdigen Gesamtwerks ist, wie mich immer dünkte, mit einem Sendungsbewußtsein ausgestattet (Sendungsbewußtsein gleich Retterattitüde), hier das Streitbare, aber auch die hohe Selbsteinschätzung inklusive Eitelkeit. Denn von Eitelkeit schien mir Canetti nicht frei, er war sehr wohl darauf bedacht, seinen Rang einzufordern. Ich habe ihn im freundschaftlichen Umgang nie als überheblich erlebt, die Unbescheidenheit betraf den geistigen Anspruch. Im übrigen erschien er mir auch in seiner spezifischen Eitelkeit immer vollkommen natürlich. Er wußte um seinen Rang, er dachte in Hierarchien, er konnte verehren.
15. April 2005, Paris
Gestern den Schluß des Buches auf Band aufgenommen. Beim Schreiben war ich mir über nichts im klaren. Die Sätze lösten sich mir von der Zunge, immer zu meinem größten Erstaunen, auch Gelächter. Ich wußte einfach nicht, woher ich das alles nahm.
Weiß der Teufel, welche Apotheose meines Werks und Wegs mir da ausgeschlüpft und, ja, gelungen ist. Als ich den Schluß, nach längerem Hinausschieben, auch mit Hilfe einer Erkältung, endlich gefunden und geschrieben hatte, weinte ich. Oder: etwas in mir wollte aufschluchzen. Und danach verfiel ich in eine depressive Müdigkeit, Schlafsucht (nicht Schlaftrunkenheit), ich war wie ein Boxer angeschlagen oder auch wie von Drogen schachmatt gesetzt, krankhaft. Es war wie ein Zusammenbruch (sehe ich heute ein). Und als ich den Hals-Nasen-Ohren-Arzt nach beendigter Behandlung und dem wieder intakten Gehör fragte, ob mein physisches Austreten, diese totale Lähmung, mit den Medikamenten zu tun haben könne, meinte er, nachdem ich auf seine Frage, wie es mit meiner Arbeit stehe, geantwortet hatte, ich hätte eben ein Buch beendet, er halte den Zustand für eine »postnatale« Depression. Er verschrieb mir ein Aufbaumittel und ließ mich ziehen. Und jetzt geht es schon wieder besser.
Ja, dieses Buch war mein ganzes Glück und womöglich das Äußerste, das ich erpressen konnte. Ich wollte es nicht loslassen, nicht hergeben. Denn das Danach schmeckt nach Tod oder ENDE – wie immer man dieses Wort interpretieren will. Ich scheine mir aller Motivation zu was auch immer beraubt. Ich müßte jetzt eigentlich abhauen und mir, wie man so sagt, einen Tapetenwechsel leisten.
Das Buch verhalf mir zur Überwindung der im Zusammenhang mit der Scheidung (todesschmerzlich) empfundenen Einsamkeit. Was nun?
19. April 2005, Paris
Canetti, Fortsetzung
Gewiß ist, daß ich zu einer anderen Autorenfamilie gehöre als Canetti. Er war mir also schriftstellerisch kein
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