Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)
Herüberwinken von Vergangenheit, ich bin dieser andere, nichts ist gelöst, das Gestern ist heute, nur daß inzwischen ein halbes Jahrhundert vergangen ist. Ich erfuhr also nicht nur die Verunsicherung von vor einem halben Jahrhundert, sondern das Ich war mühelos austauschbar mit demjenigen von damals. Also erfuhr ich auch mühelos die Verunsicherung des eigenen Ichs. Warum nicht? Ist denn nicht die Fremdheit der Welt, die Fremdheit oder besser die Befremdung angesichts der fraglichen Größe Wirklichkeit unausgesöhnt die immergleiche? Und sie ist der Ansporn für das dichterische Vergegenwärtigen geblieben, Ansporn zum Versprachlichen oder sprachlichen Übersetzen, auch Aneignen mitsamt den Löchern oder eben Schatten des Ungeheuerlichen, und indem ich in ebendiesen immerselben Nöten und Anforderungen verhaftet bleibe, künstlerischen Aufgaben, könnte ich sagen, bleibe ich immer in der Gegenwart, insofern das Dichten mit Vergegenwärtigen zu tun hat, mit vergegenwärtigendem Anmichbringen des Daseins. Es geht nicht um Lösungen, es geht nicht um Dechiffrierungen, es geht um das Umgießen des Unerklärlichen (Befremdenden) in eine anschauliche Form des Befremdlichen oder Unbeantwortbaren, und dieser lebenslange Prozeß erbringt sprachliche Partituren einer in das Dasein verlorenen Existenz, Existenzschraffuren, in welchen sich die anderen wiedererkennen können.
10. Februar 2006, Paris
Neulich mit Igor auf die Frage gestoßen, wie ich zu dem Entscheid für die Kunstgeschichte gekommen bin. Genau wie Boris spielte ich mit dem Gedanken oder besser der Versuchung, das Gymnasium vorzeitig zu verlassen, weil ich (wie er) leben wollte und die Schule mich von dem Leben ausschloß, wie ich meinte. Allerdings wollte ich ein Dichterleben führen in der vagen Überzeugung, daß sich in einem solchen sowohl Freiheit und allergrößte Selbstverantwortung verheiße wie das Instrument verberge, dem Leben auf die Spur zu kommen, was wiederum hieß, sich dem Leben einzuschreiben und schreibenderweise zu nähern und zu vergewissern. Es ging überhaupt nicht um Boheme, sondern um einen Feldzug in einem van Goghschen Sinne. Um entsprechende Welteroberung. Die künstlerische Arbeit wäre die Wünschelrute auf der abenteuerlichen Reise. Nun, ich versuchte es ja auch vorzeitig auf der Kalabrienfahrt und Initiationsreise – und schlug fehl.
Ich kam zurück als ein Dichter in spe, der seine fehlende Ausrüstung erfahren hatte und eine dementsprechende Ohnmacht. Also doch Studium, aber welches? Es ging um Wissen, ich empfand den Wissensmangel als einen Mangel an Ausrüstung. Dachte ich wirklich an Geschichte? Ich war ja vollkommen autonom, womit ich das Fehlen einer väterlichen Aufsicht und Führung meine. Ich wuchs in diesem Sinne quasi elternlos auf, nun, ich hatte keinen Gesprächspartner zu Hause, keine Hilfe. Ich sage immer, ich hätte Kunstgeschichte gewählt, weil sich hier Geschichte mit Kunst und künstlerischem Lebenswissen, künstlerischer Lebensvermittlung vereine. Aber hatte ich einen Zugang zur Bildenden Kunst? Zur Musik wohl, aber zur Malerei, Plastik, Architektur? Könnte ich die Anregung durch Fritz Braaker empfangen haben, den Vater eines Schulfreundes, der eine Art Ersatzvaterrolle für mich spielte und Zeichenlehrer und eine geistige Autorität war. In der Gymnasialzeit verkehrte ich in einem Intellektuellenhaus, das voller Paul Klee hing. Ich weiß, ich wollte nicht Literaturgeschichte machen, weil ich fürchtete, das wissenschaftliche Zerreden von Literatur nicht ertragen zu können. War die Kunstgeschichte ein Ausweichmanöver, nur das, oder verbarg sich dahinter mehr? Oder ging es einzig um eine Art reduziertes Studium generale? Daß Wissenshunger im Spiel war, steht fest. Ich kann mich erinnern, mich zu einem Seminar über Platon eingeschrieben zu haben, auf griechisch. Warum hatte ich übrigens Philosophie, die mich im Grunde brennend interessierte, ausgelassen und dies bis heute? Warum hatte ich mich in der Schule von Nietzsche abgestoßen gefühlt und von Herder angezogen?
Es ist vielleicht auch interessant anzumerken, daß bei den Überlegungen zu einem möglichen Studienweg die pekuniäre Seite, die Frage nach dem Gelderwerb überhaupt keine Rolle spielte. Warum dachte ich ausschließlich an Selbstverwirklichung? Von zu Hause war materiell ja nichts zu erwarten. All das bleibt dunkel. Vermutlich stand tief in mir drinnen die Richtung und Ausrichtung fest, und die hieß Dichter.
11. März 2006,
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