Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)
Paris
Im Grunde ist Stolp (Frank) schon auch ein Doppelgänger von Stolz. Im Grunde ist die Forelle einfach das Porträt eines Lebensunangepaßten und die »Odyssee« eines entsprechenden Verhaltensmusters. Im Grunde sind Stolz und Stolp Varianten desselben Typs oder Falls, und vielleicht gehört sogar der Mann um Dreißig in Untertauchen in dieselbe Familie – in welche natürlich der Ingenieur Nagel in Hamsuns Mysterien sowiePetschorin in Lermontows Ein Held unserer Zeit wie Puschkins Gefangener im Kaukasus wie Lenz und Werther und vielleicht tatsächlich auch Der Fremde von Camus gehören. Ich komme darauf, weil ich eben in einer Aufzeichnung aus dem Journal Das Drehbuch der Liebe über diesen Typus und mein Verhältnis dazu gelesen habe, für mich eine Schlüsselfrage.
Über den Beginn des Schreiblebens möchte ich bald einmal nachdenken, das ginge durchaus zusammen mit der vagen Idee, die frühen Blicke einzusammeln, also wohl eine Art Determination, und der verrückte Stolz/Stolp hat mit dieser erblichen Belastung zu tun. Im übrigen könnte ich womöglich all das in eine wiederaufgenommene Salve-Maria -Sache integrieren, das wäre dann ein dickes Forschungsprojekt.
14. März 2006, Paris
Völlig unverhofft die Mitteilung ins Haus geflogen, daß Pro Helvetia mir ein Werkjahr zugesprochen hat, für welches ich ein neues Projekt angeben muß, ich setze Salve Maria ein, in Ermangelung eines anderen Vorhabens, allerdings mit dem Hintergedanken, daß ich vielleicht ein anderes Buch, das der frühen Blicke ? mit einfädeln könnte. Man wird ja sehen.
Für die Forelle beginnt sich ein gewisser Erfolg auszuzählen in der Weise, daß ich nach dem Berner Buchpreis und nach dem Stipendium des Deutschen Literaturfonds nun noch das gepolsterte Werkjahr einheimse.
Was nun Maria betriff, so geht es, wie ich schon früher formuliert zu haben glaube, um das Problem der IMAGO. Maria hat dem jungen Menschen und Lebensanwärter mit ihrer italienischen Verspieltheit, die eine Art Frühmütterlichkeit (?) überdeckte, mit ihrer sanften Versprechensründe, ihrer zauberischen Güte etc. (die ja, wie er viel später erfährt, nackte Nöte eines traurigen Schicksals überdeckte … sie muß für Kind und Mutter und Bruder oben in Turin anschaffen) ein Bild zugespielt, das in eine wahre Brunnentiefe eines Bedürfens fiel, in eine tief in ihm verankerte Sehnsucht, Bedürftigkeit; sie verkörpert, damals, im damaligen Lebensmoment, alles mögliche, das ihm abgeht, einen Traum. Und dieses Bild ist in ihn gefallen und hat ihn gewissermaßen hörig gemacht, das heißt in ihre Umlaufbahn geschickt, das war nicht abzuwenden, das ist Wahlverwandtschaft oder eben Szondisches Gesetz. Er ist verzaubert. Er kennt sie nicht. Doch im ersten schicksalshaften Blicketauschen findet eine Vorwegnahme statt, im Grunde hat sich alles in diesem Blicketausch bereits abgespielt, in einem Zeitraffer, und alles übrige, das Irdische, ist nur noch Nachholen. Und im Nachholen Verpassen. Sie kennen sich nicht. Sie gehen aufeinander zu, ein jedes mit einer verschiedenen Hoffnung. Bei ihr wäre es Rettung, wie bei J. Conrad, Errettung aus einer qualvollen Erniedrigung und Beschneidung der Flügel. Er wäre der fremdländische Erretter. Und sie wiederum wäre für ihn was? Gott weiß es. Der Rest ist nur noch Nachvollzug, eine Art Abarbeiten in der Realität, auf diesen unteren Wegen. Es ist ein Verpassen. Ihre Sternbahnen berühren sich nicht. Die Liebe als Hörigkeit einer Imago. Das Leerausgehen.
Man könnte das Buch mit einem polizeilichen Verhör beginnen. Hat er sie umgebracht? Wie war es. Sagen Sie. Es gibt keine Erklärung. Les jeux sont faits. So etwas. Eine allertraurigste Geschichte. Ein jedes geht mit einem Packen Befrachtung einher. Ich möchte den Faden einer ganz anderen Geschichte einziehen in das Gewebe, ich nenne es den Faden der frühen Blikke. Der von den frühen Blicken ausgelösten tiefen Lebenserwartung oder Sehnsüchte. Ein Verpassen im Weltall. Und weder Schonung noch Erklärung noch Dahinterkommenkönnen. Alles geht seinen sturen kalten Gang. Den Gang einer Hinrichtung. Der Angeklagte legt den Kopf in die Hände. Er weiß nichts zu sagen.
17. März 2006, Paris
Meine Mutter. Ich sage immer, daß ich mir keiner Zärtlichkeit bewußt bin, sozusagen keiner Berührung, und dies vom Kleinkindesalter an. Ich frage mich, ob diese Vorstellung zutrifft oder Einbildung ist. Daß ich äffisch verwöhnt worden bin, wie mir
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