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Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Titel: Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nizon , Wend Kässens
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Benehmen der Großmutter, die ihn nie duzte, etwas darstellte. Ich kann mich an keinen Wortwechsel zwischen Vater und Mutter erinnern.
    Erinnern kann ich mich an den mit Onkeln, Tanten, Kusinen und Cousins bevölkerten langen Kaffeetisch am freien Sonntagnachmittag, wo es hoch herging zwischen den Geschwistern, ein Lachen und Sich-Necken, eine Zurückversetzung in deren einstigen Familienzusammenhalt, wenn nicht in deren Kindheit; und bei dieser Gelegenheit war Vater wiederum der Fremde, ein Anhängsel, der zwar durchaus integriert schien, wenn er auch nicht richtig mitmachte mangels sprachlichem und emotionalem Einvernehmen. Er saß gut angezogen und in seinem merklich anderen Umriß (Hintergrund) dabei, doch gehörte er gar nicht wirklich dazu.
    Wir Kinder genossen neben der Fülle von Kuchen und Schleckereien die immer mehr ausartende Verwandten-Zusammengehörigkeit und vor allem die Späße, den Unsinn. Auch bei solcher Gelegenheit schienen Vater und Mutter nicht wirklich ein Paar.
    Wenn ich zurückdenke, muß das im Kleinkindalter gewesen sein, denn später war Vater zu größten Teilen bettlägerig, und in meinem zwölften Lebensjahr starb er.
    Es war die Zerstörung der Familie und deren »Untergang« im größeren Verband der Familienpension, Studentenpension, die daran schuld war. Die Familie wurde von den zahlreichen Invasoren an die Wand gelebt.

    2. Mai 2006, Paris
     
    Was ich jetzt im Zusammenhang mit der Maria- Geschichte notieren will, ist der Aspekt der Ausbeutung. Ich komme darauf zurück, nachdem ich neulich nachts einen Film von Mauro Bolognini mit Titel Bubu de Montparnasse gesehen habe. Übrigens bin ich bereits bei dem Film La ragazza con la valigia mit Claudia Cardinale auf den Gesichtspunkt des Mißbrauchs verfallen, der damit zu tun hat, daß jugendliche Liebhaber oder besser Freier bei schönen, blutjungen Freudenmädchen ja nicht einfach den Leib kaufen, die körperliche Liebe kaufen, sondern darüber hinaus in die Präliminarien der wirklichen Liebe, wie sie glauben möchten, oder doch der echten Verliebtheit eintreten und insofern die Geschäftsregeln brutal übertreten. Was mir bei dem Bolognini-Film aufging (und der jugendliche Liebhaber sträflich übersieht), ist der soziale Hintergrund, der die Mädchen auf die schiefe Bahn schickt: die Not, Armut, womöglich verbunden mit Unterstützungspflichten. Zum sozialen Hintergrund gehört die mangelnde oder fehlende (verpaßte) Schulausbildung, der Armutsstatus, Unausgerüstetsein, Unwissenheit. Und das einzige Gut, das auf dem Arbeitsmarkt einzubringen ist, sind Jugend und Schönheit. Der verliebte jugendliche Freier sieht nur letzteres, den Hintergrund kann er nicht und will er nicht wissen.
    Das Verhältnis zwischen Zuhälter und Hure ist eine Art Liebesverhältnis, vor allem von seiten des Mädchens, für das der Macker alles bedeutet, Zugehörigkeit, Schutz, vielleicht Verehrung. Vor diesem Hintergrund muß man den Einbruch eines verliebten Freiers sehen, der nur ein weiterer und möglicherweise noch schlimmerer Ausbeuter ist, weil er sich nicht mit dem Status des Kunden zufriedengibt, sondern Liebe erleben möchte. Für ihn ist die Prostituierte eine Projektionsfläche, eine Spielfigur. Er setzt alles daran, sie in eine Liebende zu verwandeln. Ja, er will Liebe erwecken und Liebe erleben. Mag sein, daß das Mädchen bis zu einem gewissen Grade mitspielt, aus, sagen wir, romantischen Gründen, nach einer Weile aber mit echten Hoffnungen, der malavita entgehen zu können.
    Nie habe ich Maria unter solchem Gesichtspunkt gedacht, ich meine die Geschichte, wenn es denn eine sein oder gewesen sein sollte. Ich war ja auch merkwürdigerweise nicht draufgängerisch. Ich habe sie nicht wirklich zu erobern versucht, doch habe ich sie seelisch dennoch mißbraucht, ich bin ja in ein privates Verhältnis mit ihr eingetreten, ich habe ihr Söhnchen auf meinen Schultern getragen und die Mutter kennengelernt anläßlich eines Besuchs. Ich habe sie ins Spital gebracht. Für Maria war das Spital bloß verlorene Zeit, sie hatte ja keine echten Aussichten nach einer möglichen Gesundung, und die Zeit ohne Arbeit war verlorene Zeit. Hinzu kommt in ihrem Falle das Glamouröse ihres Falterlebens in den Nachtklubs. Und das Spital war im Vergleich dazu unerträgliche Zurückversetzung auf die unterste Stufe einer wohl bis dahin nie ganz akzeptierten Realität.

    15. Mai 2006, Paris
     
    Bin eben von der großen Ingres-Ausstellung im Louvre zurück. Ich

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