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Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Titel: Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nizon , Wend Kässens
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Patriotismus aussah und die entsprechenden Privilegien besaß, weil sie wußten, daß sie, obwohl geborene Franzosen mit Paß, nicht nur nicht wohlgesehen, sondern zutiefst ungeliebt, nicht akzeptiert, verachtet waren, vor allem ohne Zukunftsaussichten. Sie waren da, nämlich in Frankreich, wo sie geboren waren, in Wirklichkeit gehörten sie nicht dazu, sie wagten sich auch nicht wirklich ins Stadtinnere vor, sie waren ausgeschlossen, sie würden, mit ihrer Hautfarbe, ihrem Banlieue-Look, ihrem provokanten Gehabe weder Wohnungen noch Stellen kriegen, auch die Minderheit, die einen Schulabschluß geschafft hatte, nicht. Ihre Heimat waren die armseligen Cités, die Schlafstädte, die Langeweile, im Grunde die Treppenhäuser und die trostlosen Zugänge zu den heruntergekommenen Wohnkasernen, die sie besudelten, weiter vandalierten, aber beherrschten. Ihre Welt waren die Gangs, die Kriminalität, die Scham und die die Scham kaschierende Großmäuligkeit, Aggressivität. Sie hatten ja nicht einmal Einlaß in die Discos und Bars. Sie lebten in ihrem Untergrund, ihrem RAP, einige zunehmend in islamischen Identifikationen, Identifikationen mit den Palästinensern, Bin Laden und ähnlichen gegen den weißen Administrator, will sagen amerikanischen Imperialismus gerichteten Träumen bis Ideologien, worin natürlich der Antisemitismus oder Antizionismus mitenthalten ist. Anleihen auch in der ihnen unbekannten, vielleicht verklärten arabischen Herkunftswelt inkl. Religion oder menschlicheren afrikanischen Gesellschaft. Brüderliches Aufgehobensein. Verlangen nach Identität.
    Im nachhinein sprechen die Politiker von Chancengleichheit mittels gezielterer Einschulung oder speziellen schulischen Programmen, man will einmal mehr Gesetze erlassen gegen Diffamierung Diskriminierung Xenophobie Ausschließung, man spricht hochgemut von dem ungenutzten kreativen Potential in den Ghettos, man spricht von den Vorzügen der kulturellen Vermischung, der multikulturellen Bereicherung. Doch sind das für längere Zeit leere Worte. Denn im Grunde will der Franzose oder will der ehemalige Kolonialherr im Inneren des Franzosen die ehemaligen Einheimischen nicht wirklich in die Nation aufgenommen sehen und schon gar nicht gleichberechtigt, er will sie nicht wahr haben, darum sollen sie auch draußen und unter sich bleiben, in den Vorstädten. Auch im Geschäft und Unternehmen möchte man doch besser als Weiße unter sich bleiben. Keine Vermischung. Im Sport dürfen sie für Frankreich Lorbeeren ernten oder die Kastanien aus dem Feuer holen wie weiland in den Kriegen. Monte Cassino wurde ja angeblich von senegalesischen Scharfschützen und Marokkanern geknackt.
    Auch bei mir kann ich den eurozentrischen Kulturhochmut feststellen. Wenn ich mich am Radio den mir zum größten Teil unwillkommenen Klängen aus farbigen Breiten konfrontiert sehe und der Moderator im Gespräch mit deren Vertretern das große Wort Kunst und Schöpfung bis zum Überdruß verschachert, nein: bis zur Sinnentleerung mißbraucht und Rai gewissermaßen in einem Atemzug mit Schubert apostrophiert, reagiere ich empört, ebenso bei dem neuerdings in kulturellen Dingen propagierten Wunschbild der Métissage . Xenophobie, koloniale Vorherrschaft, weißes Wertdenken. Nur nicht dieselbe Verbasterung wie bei der ausnahmslos Jeans tragenden Menschheit. Der große barbarische Eintopf. Oder wäre das Ganze ein Schleier über dahinter nur noch brutaler stattfindender Ausbeutung und Ungerechtigkeit, nämlich Unmenschlichkeit? Oder will ich mit dem elitären Gesichtspunkt Privilegien verteidigen und das mir Unliebe als minderwertig ausschließen? Nur nicht teilen? Bestimmt hat meine Abwehrreaktion mit dem Individualcredo zu tun.

2006
     

    3. Januar 2006, Paris
     
    Morgen sind meine neuen Bücher in den französischen Buchhandlungen. Und schon kündet sich ein wahrer Sturm im Blätterwald an, ich meine die Kritiken, große Namen, große Plazierungen. Heute abend spricht Beigbeder auf Canal + über mich, es folgen Beiträge in den Sendern France 2 und France 3 und so fort, Sophie Patey (Pressefrau bei Actes Sud) spricht von einem literarischen Ereignis und was die Journalisten betrifft, von meinem Fanclub.
     
    Ich hab mir, im Unterschied zu Handke, meinen Namen in Frankreich gemacht, denn als ich, vor nun dreißig Jahren, hier ankam, ging mir in französischen Augen kein Ruf und schon gar kein Ruhm voraus. Und so bin ich ein Pariser Schriftsteller geworden.
     
    Was nun die Gleitenden

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