Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)
meine Schwester vorsagt, mag stimmen oder zutreffen und ist mir vage erinnerlich. Eine Art Wunderkind? Ich sehe mich gewissermaßen auf einem Podium, unter Akklamationen. Ich war lange ein Heimwehkind, also alles andere als abgenabelt. Einmal, als Schwester und ich allein in ein Ferienhotel am Beatenberg verschickt worden waren, mimten wir Notfallhilferufe, bis man uns zurückzukommen erlaubte. Wir hielten es fern des heimischen Nestes nicht aus. Also muß es doch so etwas wie Nestwärme oder Geborgenheit gegeben haben. Ich sehe meine Mutter als junge Frau mit den Pensionären nicht gerade schäkern, jedoch spaßen. Sie muß für Komplimente empfänglich gewesen sein. Ich sehe sie als eine Art schöne modische Fremde, wenn sie von ihren Parisbesuchen zurückkam, von Onkel und Tante Bléreau. Ich sehe sie streng mit unseren Mägden verfahren, wenn diese einen Fehltritt begingen, die eine hatte sie bestohlen, Mutters Schmuck war verschwunden. Ich muß im Primarschulalter gewesen sein. Ich sehe sie auf dem Gemüse- und Fleischmarkt, einkaufen. Mutter wurde mit Ehrerbietung behandelt. Sie war ja auch eine Frau Doktor und hielt darauf, so genannt zu werden. Sie war eine stattliche Erscheinung und geachtete Dame. Innerlich war sie wohl eine Träumerin, ich denke, sie lebte andauernd und vor allem später in Jungmädchenträumen. Sie erzählte auch gerne von ihren Schulzeiten, von Lehrern, Ausflügen. Sie war ein Schwarmgeist. Auch am Klavier schien sie in schwärmerischen Träumen schwebend, Sonntag nachmittag, wenn die Wohnung uns gehörte: am Sonntag weder Mittags- noch Abendtisch für die Pensionäre. Sie war streng gehalten, wenn nicht unter der Fuchtel ihrer Mutter aufgewachsen und blieb ihr gegenüber gehorsam und jungmädchenhaft. Ich habe unklare, verklärende Erinnerungen an Sonntagnachmittagspaziergänge. Sie muß eine stolze Mutter gewesen sein, unterwegs mit dem Säugling im Kinderwagen unter den Bäumen im Bremgartenwald, im Lichtspiel und Vogelgezwitscher. Doch kann ich mich nicht erinnern, je geherzt worden zu sein, ich kann mich nicht daran erinnern, daß sie mit Worten und Gefühlen an meinen Erfahrungen oder Nöten teilgenommen hätte; daß sie je auf mich eingegangen wäre, kann mich nicht an Zuspruch oder Hilfestellung oder Rat, nicht an Mitleid oder Trostspendung erinnern. Später, als ich Gymnasiast, Student und selber Dr. phil. und Kritiker und Schriftsteller geworden war, ging ihr Stolz in ein Eingeschüchtertsein über, Bewunderung, blind, jedoch gab es nie einen Dialog, nur formelhafte Sprüche, Redensarten. Sie liebte die Gesellschaft meiner Freunde. Sie schien mir seelisch unterentwickelt, die Freunde aber sprachen immer bewundernd von ihrer stolzen schönen Erscheinung und Güte. Ich beschenkte sie, ich schenkte ihr Schmuck, auch nahm ich sie auf Autofahrten mit, wobei ich den Eindruck, eine Statue anstelle eines Menschen oder gar einer mütterlichen Person mitzuführen, nie los wurde. Nur einmal, in vorgerücktem Alter, als sie wieder berufstätig wurde und als Sekretärin oder dergleichen eigenes Geld verdiente und mich zu wunderbaren Essen mit vielen Gemüsen und mehrerlei Fleisch einlud, sah ich sie vorübergehend als selbständige Erwachsene oder gar Mutter. Letztlich ist sie wohl immer ein in die Jahre gekommenes Mädchen ohne eigene Meinung geblieben, leicht verschüchtert, in einem falschen Stolz aufrecht, gierig nach Aufmerksamkeit, ausgehungert mangels Bewunderung, so etwas. Man müßte meinen Frank Stolp vor solchem Hintergrund erklären. Denn das Stolpsche Psychogramm aus Lebensunwohlsein oder aus tief empfundenem Ungeliebtsein (?), bestimmt aus Mangel, kommt ja nicht aus dem Nichts oder aus Beliebigkeit. Der Mann hat keinen Hintergrund und Anhalt.
20. April 2006, Paris
Um auf den frühen Blick zurückzukommen und damit auf die Elternkonstellation: nicht nur kein Familienleben, nicht nur eine emotional unerreichbare, in sich eingeschlossene Mutter, nicht nur einen mehr oder weniger abwesenden Vater, in seiner Krankheit die mitgebrachte und uns Kindern unerklärliche Fremdartigkeit des Landesfremden noch weiter, schon fast bis zu einem Verblichensein (bei Lebzeiten) vergrößernd, sondern: so gut wie kein Kommunizieren zwischen den Elternteilen, nichts, das von einem Paar kündete, kein Fünkchen zwischen Mann und Frau, nicht das geringste erotische Knistern, nichts. Von daher kein Eltern paar , wenn auch Vater wenigstens in dem ihn mit Hochachtung und Ehrerbietung begegnenden
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