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Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Titel: Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nizon , Wend Kässens
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waren ein Brüderpaar. Wir hatten uns erwählt. Wahlverwandte waren wir. Und blieben es im Inneren.

    29. Januar 2006, Paris
     
    Die Lethargie, eine latente Depression möglicherweise, die mich lebenslang in Abständen erfaßt und schlechterdings aktionsunfähig macht, ich habe darüber in verschiedenen Büchern nachgedacht, insbesondere im Bauch des Wals , ich komme darauf zu sprechen im Zusammenhang mit der Forelle , genauer gesagt mit Doris Krockauers Replik auf die Lektüre des Buchs. Sie meint, daß ich einmal mehr die Ursache der Krise – und um Krisenbehebung gehe es in allen meinen Büchern, die Krise ein literarisches Movens – nicht benannt, nicht charakterisiert, vielmehr verschwiegen habe, ausgespart. Ich dachte, die Krise sei die Verstoßung aus der Liebe, wenigstens habe ich diesen Hintergrund für das Umgetriebensein oder Leiden des armen Frank Stolp deklariert. Nun lese ich in Elisabeth Plahutniks Notizen in Verbindung mit einem biographischen oder monographischen Vorhaben zu meiner Person, sie habe von Anfang an die Vermutung gehabt, daß mein Auftreten, meine Erscheinung, Allüre, ein maßgeschneidertes Kostüm oder Tarnkleid sei, um eine tiefe, in frühkindlichen Umständen erlittene Beschädigung zu verbergen, und diese Tarnung gehe so weit, daß sie sich auch in den Büchern niederschlage, insofern die Erzählerperson überhaupt nicht mit der Lebensperson übereinstimme. Phänomen einer Rolle. Sie nimmt an, daß die weitestgehende Vaterferne und ein mütterlicherseits übergroßer Mangel an Zärtlichkeit, zärtlicher Zuwendung oder Aufmerksamkeit, den kleinen Pablo in eine vorzeitige und über die Kräfte gehende Autonomie verstoßen und daß die Autonomie sehr früh in eine Umerfindung des Ichs umgeschlagen habe, eine Selbsterfindung als Wappnung. Wäre dem so, dann käme die eingangs erwähnte und in meinen Büchern omnipräsente Gefahr der Lethargie bis Depression aus solchem Grundmanko, einer quasi angeborenen oder früh empfangenen Weltverlorenheit, Hinfälligkeit, Grundtrauer. Und der Lebemensch, Frauenmann, Betörer bis Triumphator sei Kompensation des Mangels oder eben Tarnung. Hier die brüchige Selbsterfindung, das Kämpferische bis Arrogante, Ichbezogenheit bis Egomanie, Liebesunfähigkeit. Was dazugehört, wäre mit Verausgabung bis Erschöpfung zu benennen. Der Packen ist ihm zu schwer geworden. Und im Grunde handelte die Forelle vor dem Hintergrund des Liebesverlustes von dieser Last und dem heroischen Versuch, sie abzuwerfen in einem hochakrobatischen Akt des Entfliegens, was auch Entkommen, Entschwerung, Erlösung heißen darf.
    Ich komme auf diese Problematik zu sprechen, weil ich einmal mehr und jetzt inmitten eines niegekannten Erfolgs mit den beiden französischen Büchern in diese Lethargie falle, eine lähmungsähnliche Verwahrlosung, gegen die ich lebenslang ankämpfe; und weil ich etwa im Unterschied zu einem schon fast in Goetheschem Sinne allseitig offenen, unermüdlich schöpferischen, viele Anlagen auslebenden Handke der Inbegiff des Vernagelten und innerlich Eingekerkerten darstelle. Ja, das sorgsam Ausgesparte meiner Bücher, sind sie Krankenberichte im tiefsten? Es ist merkwürdig, daß sowohl Doris Krockauer wie Elisabeth Plahutnik als einzige ein Mitgefühl aufbringen für das hinter meinem Schreiben verborgene und dieses in Gang setzende, jedoch mit beträchtlichem Leiden verbundene, schreiende Unrecht, könnte ich sagen, das dem Menschen meines Namens in der ersten Frühe angetan sein muß und ihm den Packen aufbürdete.

    4. Februar 2006, Paris
     
    À propos Die gleitenden Plätze
    Bei einem meiner letzten Besuche in Bern hielt ich mich an der Tramhaltestelle Helvetiaplatz auf und betrachtete den Eingang zum Historischen Museum. Und ich sah die »Schatten auf Rasen«, und ich fühlte dieselbe Verunsicherung wie dereinst. Die Schatten höhlten die grasige Oberfläche aus und eröffneten dem Auge (oder dem Sinnen) eine unsichtbare und möglicherweise bedrohliche Unterwelt, die Abgründigkeit … Es war das Umkippen des Realen ins Unfaßbare. Das Auge des Betrachters erlag dem Sog einer uneinschätzbaren (darunterliegenden) Ungeheuerlichkeit, so etwas war es: eine Art inneres Absacken.
    Und ich stand, stand vor dem Portal und erfuhr das Schaudern wie dereinst. Vermutlich hatte sich das Auge von damals vor mein heutiges Auge geschoben. Ich will damit sagen: Ich war der damalige Assistent einen Moment lang, und sagte mir: Mensch, es ist nicht einfach ein

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