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Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Titel: Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nizon , Wend Kässens
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Die weiteren Eröffnungen des armen Frank Stolp. In einer Weise ist ja die Forelle die Fortsetzung von Hund .

    20. November 2006, Paris
     
    Zu Gerd Hoehme, in dessen einstigem Atelier in Neuss-Selikum ich vorgelesen hatte, fällt mir beim Durchblättern der mir überreichten Publikationen mit den vielen großen Reproduktionen ein: das Spechtgesicht, die leicht mörtelige Haut, das umsichtig freundlich Verhaltene, das Gran Abgewandtheit und die große Portion tief angelegter Güte. Die Feinheit, die fast über Paul Klee hinausgehende Sensibilität, Kostbarkeit seiner Veranlagung. Er ist ein hochgradiger Ästhet im Gewande eines modernen hinterfragerischen Geistes, und es spukt ein Gran Sentimentalität durch sein Wesen. Der Begriff Lauterkeit gehört dazu. Und die schnellen Wagen, die er fährt, der einstige Kriegspilot, der mehrmals abgeschossen, verletzt und gefangengenommen worden ist. Und der den Krieg, ich weiß nicht wie, losgeworden ist mit einem Abwerfen der Uniform? die er gleich mit dem Kittel des Malers vertauschte. Er hat kaum vom Krieg gesprochen, er war Flieger und sogar Staffelkommandant gewesen, glaube ich. Er stammt aus der Nähe von Dessau. Er hat Celan gekannt. Er ist ohne lange Umwege zur Avantgarde vorgestoßen und hat sehr schnell Erfolg gehabt. Als wir zusammen in Rom waren, schien er mir, natürlich im Gegensatz zu mir, ein gemachter Mann. Er war zehn Jahre älter. Er spielte schon in der Truppe der Berühmten mit (und ich damals nicht viel mehr als ein unbeschriebenes Blatt). Er war unangetastet von Hochmut, Erfolgsallüren. Sehr verhalten und nach innen gekehrt, und es gab ein paar Züge Skepsis in dem ansonsten von einem reinen Toren nicht sehr weit entfernten Gesichtsausdruck. Neigung zum Intellektualisieren, was in meinen Augen seinem ästhetischen Fluidum zuwiderlief, und etwas aufgesetzt wirkte. Er war ja auch sehr bald Professor an der Düsseldorfer Kunstakademie geworden, darum möglicherweise der Hang zum Theoretisieren. Akademiekollege war Beuys, ebenfalls Kriegsflieger a.D. Bei jenem hat der Krieg zentrale Spuren hinterlassen. Hoehme war Flieger und als Mensch eine Vogelart, ein ganz ganz leicht komischer trauriger Vogel. Bei aller Einfachheit selbstgewiß. Wir waren viel zusammen in Rom, viel Gespräch, viele Diskussionen. Am schönsten die gemeinsame Fahrt in dem damals noch verhältnismäßig bescheidenen Sportwagen durch die Berge nach München, die in meinen Text »Canto auf die Reise als Rezept« eingegangen ist. Wir starteten den Tag nach meiner ersten Begegnung mit Maria. Wäre ich nicht abgefahren anderentags, hätte die Maria-Geschichte möglicherweise einen anderen Verlauf genommen. So habe ich Maria gleich in ein unantastbares Heiligenbildchen verwandelt oder Ex-voto-Bild. Bin ich davongespurtet? Als ich neulich den ergreifenden Film von Zurlini nach Buzzatis Buch Die Tartarenwüste sah, dachte ich, in der Figur des Maria-Gegenspielers könnte ich nicht nur den Fortsetzer des Frank aus der Forelle , sondern auch etwas von jenem blutjungen Offizier einbringen, der in der Festung, in Erwartung der Angreifer, nicht nur seine Jugend, sondern sein Leben verspielt, verliert. Auch ein junger Mensch, auch ein Lebensantritt. Novize. Das Wort könnte ein Schlüsselwort sein. In meiner Salve-Maria- Geschichte würde ich meine eigene Familie womöglich weglassen. Das könnte die Thematik nur verstärken.
    Das frühe freiwillige Ausscheiden aus dem Leben. Gilt für den jungen Offizier und warum nicht für den Mariaversehrten? Warum nur die »Unbeflecktheit«? Ging mein Held gleich ins Kloster (nach der empfangenen Ohrfeige im »Weltall«)?

    19. Dezember 2006, Paris
     
    Mein Geburtstag. Früh einige Anrufe bekommen, und jetzt wieder beim Durchsehen der Journaleintragungen dieses Jahres, immer in der Hoffnung, daß eine Leitidee für Salve Maria herausspringe. Mein Eindruck dieses verkorksten Jahres (das so triumphal begonnen hatte): daß ich hauptsächlich um das Thema des frühen Blicks herum notiert habe und an einigen wenigen Stellen auf ein Goldäderchen gestoßen sein dürfte. Kindheit = was ist die Last, was ist der Packen – um es mit einem Zitat aus der Forelle zu sagen.
    Wenn meine Kindheit ein Sprachdornröschenschlaf genannt zu werden verdient, meint das Erwachen Erlösung durch das Wort. Erlösung von Schmach und Halblebendigsein. In der Sprachfreiwerdung ist alle Hoffnung geballt. Ich hatte keine andere Möglichkeit zu werden als diejenige, die Dichtung in mir

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