Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)
Jugendvorgeschichte installieren mußte, in der Absicht nach weiterer Verankerung der Person und wohl zur Beleuchtung der nicht recht begreifbaren Handlungsweise des Helden, so müßte ich im Falle von Maria über den Auschwitzfilm den Krieg und Nachkrieg einbringen, ein KLIMA oder den historischen Kontext.
Die Frage ist natürlich, wie ich diese BEDINGUNGEN erzählerisch einbringe, deren Produkt der Held von Salve Maria und dessen merkwürdige Handlungsweise oder Heilserwartung insgesamt sind. Das Stichwort »Anfang« muß ebensosehr als Stimmung mitschwingen wie die Aura des antiken Grabreliefs.
War ich oder war der jugendliche Held denn nicht ein Verschonter des Kriegs und somit des Lagers? Ein Entsprungener. Im Krieg ein Kind oder Jüngling, hat er immerhin die Sirenen des Fliegeralarms, die Verdunkelung, das Fehlen der mobilisierten Väter, Hitlers Brandreden am Radio und die furchtsam erwarteten schweizerischen Nachrichten vom Kriegsgeschehen, das Verbringen von Stunden im Luftschutzkeller der Schule, den Landdienst, die Anbauschlacht, die Flüchtlinge, das Internieren der Flüchtlinge als Internierungshelfer, die internierten Truppen, die Polen, die Spahis …, die Furcht vor dem Einmarsch von Hitlers Truppen, die Rationierungskarten, das schweizerische Abgekapseltsein, die Euphorie bei Kriegsende und Churchills Besuch in Zürich, das alles als Schulkind, mitbekommen. Denn 1945 war ich, war er ja erst 15 Jahre alt. Und dennoch wußten wir von den Konzentrationslagern. Als Siebzehnjähriger erstmals in Oberitalien (Venedig, Verona) wie in Paris. Matura 1949.
Anfang der fünfziger Jahre in München, es war so gut wie das Jahr null, die Bombenlöcher, die Ruinen, die amerikanischen Besatzungstruppen, die allgemeine Armut, der Rausch des Aufbruchs in der Armut, die weiter keine Rolle spielte, das Essen in einem Studentenrestaurant nahe der Amalienstraße kostete 90 Pfennige und bestand aus immerhin drei Gängen. Ich hatte ein privates Stipendium von einer Missionarswitwe, vermittelt durch Eva Merz, für welche ich bei Radio Bern kleine Beiträge schrieb nach Rückkehr der Initiationsreise nach Kalabrien, das damals von Giulianos Banden beherrscht wurde. Napoli 1950. Das Geld auf dem Bauplatz verdient.
In den fünfziger Jahren Student und 1954 Vater eines Söhnchens, Student noch immer bei der Geburt der Tochter, ein Jahr danach Doktorexamen und Antritt der Museumsstelle. Familienvater. Die Frage ist hier nicht das Dichterwerden, nicht die private Vita, sondern die geschichtliche Stunde. Die ZEIT als Faktor der geistigen, der bewußten (?) Verfassung. Erinnere mich, daß ich in dem Studienjahr in München durch Orwells Roman 1984 das totalitäre Regime als Albtraum in mich aufgesogen hatte. Natürlich ging die Überwachung durch den Großen Bruder auf den Stalinismus zurück. In der Schweiz die Kommunistenhetze, Kalter Krieg, die ungarischen Flüchtlinge nach dem Aufstand 1956 (nach dem Aufstand in Ostberlin), der Freund Johannes Dobai. Der Existentialismus hatte seinen Abklatsch in der Berner Kellerkultur, der Gegenkultur der Künstler.
Ich hatte ja auch von den Parisbesuchen eine Nase voll Boris Vian (das Orchester Claude Luter und Sidney Bechet) mitbekommen. Ich will nicht aufzählen, der Algerienkrieg hatte keinen Niederschlag in meinem Bewußtsein, wohl aber die Kriege des blutjungen Staates Israel und wenig danach der Krieg in Vietnam, doch ist das vorgegriffen.
Meine Bildung fußte auf dem Gymnasialprogramm der klassischen deutschen Schulen, der deutschen Kultur, für dessen Literatur mein Herz vibriert hatte; nun war dieser Nährboden weggerissen und verrucht, und viele Ausdrücke gehörten nun ins Wörterbuch des Unmenschen. Mit der großen russischen Erzählliteratur war es noch nicht soweit, und schon im Verlauf der sechziger Jahre begann ich durch Konrad Farner am politischen Engagement der Jugendrevolte zu schnuppern, doch das war nach Rom. In Amsterdam, es mag 1955 gewesen sein, mit den Zeichnungen van Goghs im Stedelijk Museum befaßt, als ich an einem Wirtshaustisch mit einem Bekannten deutsch sprach, standen Gäste auf und machten drohend den Hitlergruß in meine Richtung. Den Krieg durch deutsche Augen hatte ich durch den deutschen Schwiegervater und einstigen Wehrmachtsoffizier nacherleben können, er tönte schuldfrei, mich schauderte.
Als ich in Rom ankam, war der Krieg seit fünfzehn Jahren zu Ende. Und ich war mit einer Deutschen verheiratet. Ich wußte von den Partisanen, den
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