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Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Titel: Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nizon , Wend Kässens
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Carmen im Spiel? Nur daß diese nicht einfach so mit sich umgehen läßt. Heißt das Spiel Orpheus und Eurydike? Wäre das das Grundmuster? Aus dem Schmerz um den Verlust das Dichten legitimieren. War das nicht schon so ähnlich in der Vera/Lara-Geschichte des Jünglings? Und warum mußte ich, kaum daß das Romjahr hinter mir lag, in Barcelona wiederum eine Liebesgeschichte anstiften und jetzt mit der armen Antonita? Wie ich in Zürich nach dem dritten Abschied und dem inneren Begräbnis dieser Liebesentflammung, jetzt bereit, den Canto hinzufetzen, das schöne Foto von A., das sie mir mitgegeben hatte, ebenfalls zerfetzen mußte und die Fetzen in die verschiedenen Senklöcher der Abwässer warf? Damit das Bild ja nicht wieder zusammengesetzt werden könnte. Antonitas Effigium aus der Welt schaffen. Ging es immer (nur) um die Entzündung einer Illusion, Illusion einer Unerreichbaren; und um die Herstellung von Einsamkeit, Liebes- und Gottverlassenheit zum Zwecke des Schreibenkönnens. Sich an der Liebe, am Leben vergehen. Ist das Grundmuster dieser Erbsünde die Ausstoßung aus dem Paradies durch Vicenta, die mich zum Dichter gemacht hat? Von all diesen Wiederholungen ist die Maria-Geschichte die allertraurigste. Hier geht es außerdem um eine nichtvollzogene Liebe.

    11. November 2006, Nationalfeiertag, Paris
     
    Zurück zu Maria. Ich frage mich, was der Zauber, was die Anziehung war, die mich 1960 so weit gehen hieß. Ich muß nicht nur geblendet, sondern überwältigt gewesen sein von ihrer Schönheit oder Lieblichkeit, den Augen, dem Mund, der Haut. Es gilt ja eine Schallmauer der FREMDHEIT zu durchbrechen. Und wichtig ist die Fremdheit der anderen Sprache, der anderen Herkunft und damit der anderen Geschichte: der Hintergrund. Ich trete aus dem Munde der Schönen, wenn sie meinen Namen ausspricht mit ihrer nur ihr zugehörigen Stimme, die die andere Sprache spricht. Das Angenommenwerden, das Empfangensein. Es ist wie Taufe, wie auf die Welt kommen. Genau dasselbe geschah mit Antonita in Barcelona. Und im Grunde war es schon mit Brigitte der Fall. Was wäre die alles Denkbare übersteigende Wundermacht solcher Erhörung ? Was wäre die aus der Tiefe quellende Dankbarkeit, vermischt mit Ungläubigkeit? Ist die Frau dank ihrer Schönheit und mit der Macht der Liebe nicht nur die Erlöserin (aus dem Mangelnden), sondern geradezu die Erfinderin deiner selbst, und zwar als vollwertiges Mitglied der Menschheit, als Mitmensch? Mann? Die Geburt des Mannes aus den Netzen der Liebe. Oder den Schleiern, Harmonien der Liebe? Ich deliriere. Es hat mit Erweckung zu tun. Muß mich nach der abgründigen Verunsicherung, die dem ewigen Begehren vorausgeht und Pate steht, fragen. Es geht ja weit über den Sexappeal hinaus, was ich die Depesche nenne, es hat aber mit der geschlechtlichen Vereinigung und deren Verheißung zu tun. Ich spreche andauernd in biblischen Termini. Sei’s. Mein Ausgangspunkt war ja die Frage, welche Macht es vermag, mich nicht nur vom Wege, sondern von allen Zugehörigkeiten abzubringen, was es mit der notorischen Disponibilität zur Untreue auf sich hat. Hatte ich mich nie wirklich vermählt? Blieb der Fremdling in mir immer quälend lebendig? Oder wäre der Fremdling einfach der Jüngling, der ewige Lebensanfänger, einer, der nie Fuß gefaßt hat? War dieser Fremdling, auch dann, wenn ich mit den Meinen familienvereint lebte, untergründig tonangebend und sehnte sich nach den unausdenkbaren Wundern der Erhörung – darum das unermüdliche Verlangen nach Frauengunst? Statt Fremdling käme der Begriff des Einsamen in Frage und damit des Strolchs. Gewiß ist, daß das Begehren ungestillt andauerte und damit die Disponibilität zum Weglaufen. Zur Untreue. Oder wäre das Verlangen einfach das Verlangen nach mehr (nach dem Höchsten)? Ich wollte natürlich nicht eingefangen werden (heißt es im Fell der Forelle ). Wollte nicht Fuß fassen, sondern auf den Flügeln der Liebe enteilen. Verschwinden.
     
    Dieses Theoretisieren führt zu nichts, es sei denn, ich könnte die Gestalt des Helden (jenes anderen Ichs) Fleisch werden lassen. Ver-wirklichen. Annäherungsversuche.
     
    Ich bin ja in der Ergründungsarbeit dieses Helden im Fell der Forelle um einiges weitergekommen. Es ginge also um die Fortsetzung der Erschließung jenes Personenraums . Insofern könnte Maria bzw. die Maria-Geschichte im Tonfall der Bekenntnisse jenes Hochstaplers und Mörders Frank Stolp weitergehen. Les dire d’un paumé inspiré.

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