Urlaub fuer rote Engel
konnten.
Von den Unterschiedlichkeiten und Gemeinsamkeiten beim Verfassen von Reportagen
Brief an Günter Wallraff
Lieber Günter,
zwar redeten wir vor der Wende manchmal und nach der Wende sehr oft über Gott und die Welt, über Authentisches und Erfahrenes,
über Gemeinsamkeiten beim Schreiben und unterschiedliche Sichten in der Politik, aber wir hatten – ich weiß nicht, ob bewusst
oder unbewusst – dabei immer eine Frage ausgeklammert. Erst bei jener »Abendveranstaltung« in Deiner Wohnung, als Du nachts
um 1.00 Uhr auf die Idee kamst, dass wir noch gegeneinander »shufflen« müssten, Du mir müdem Krieger erklärtest, wie man auf
dem zwei Meter langen Brett die Holzsteine mit Gewalt und Geschick durch die Ziellöcher schießen muss, und dann, weil für
Dich jedes Spiel auch Kampf ist, bis zu deinem grandiosen Sieg (mit neuer Bestleistung) um 4.00 Uhr kämpftest, erst dann fragte
ich (vielleicht um Dich zumindest verbal nicht immer »den Größten« sein zu lassen): »Weshalb bist du nie in der DDR untergetaucht
und hast über das Leben dort ein Enthüllungsbuch geschrieben?«
Deine Antwort kam nicht wie so oft schlagfertig, sondern erst nach langem Überlegen. Und dann auch noch als Gegenfrage: »Weshalb
hast du Reportagen über Afrika, Sibirien und die Fischgründe vor Labrador geschrieben, aber nicht eine über das Leben in der
BRD?«
Wir hätten es uns beide mit den Antworten leichtmachen können. Du mit der Begründung, dass es sogar Dir in der DDR, wo jeder
von der Wiege bis zur Bahre mit einer bürokratischen Akte begleitet wurde (ohne die er nicht existierte!), unmöglich gewesen
ist, eine Personalakte zu fälschen und sich als SED-Funktionär oder Assistent eines Kombinatsleiters zu verkleiden. Ich hätte
mich mit einer nicht erteilten Reiseerlaubnis und für Recherchen in der BRD fehlender Westmark entschuldigen können. Das taten
wir beide nicht. Stattdessen sagte ich: »Wahrscheinlich waren mir die Menschen, ihre politischen Ansichten, ihre Lebensweise
und ihre wirtschaftlichen Probleme – also das, worüber ich schreiben wollte –, in Nowosibirsk damals näher und vertrauter
als die Akkordarbeit von türkischen Fremdarbeitern in den Rüsselsheimer Opelwerken oder die Finanzmanipulationen von Bankern
an der Frankfurter Börse.«
Du hattest damals nur gesagt: »Ja, wahrscheinlich war dir der Kapitalismus so wenig interessant und so fremd wie mir seinerzeit
euer Staatssozialismus.«
Und vielleicht war es wirklich so: Du wolltest (und hast es sehr wirkungsvoll getan) die zum Teil unmenschlichen Arbeitsbedingungen
des Kapitalismus, die staatliche und parteiliche Intoleranz und die Missachtung von Menschenrechten entlarven. Du wolltest
die Gesellschaft verändern, aber keine Alternative dazu, wie den Staatssozialismus à la DDR, beschreiben. Und ich wollte wenigstens
die ideologischen Parteizwänge, die Fehler der Planwirtschaft, den für jeden inzwischen sichtbaren, immer größer werdenden
Unterschied von sozialistischer Theorie und der »beschissenen« Praxis aufzeigen, alsodie Gesellschaft gerechter, humaner – eben in meiner kleinen Gedankenwelt »sozialistischer« – machen. Aber ich wollte als
Alternative nicht die kapitalistische Ordnung der BRD propagieren. Wohl deshalb bin ich im Oktober 1989 auch nicht in den
Westen, sondern in den Osten »geflohen«. Ich wollte im Hinterland der Sowjetunion, in Kamyschin an der Wolga, recherchieren,
wie und ob man durch Gorbatschows Umbau (Perestroika) und neue Offenheit (Glasnost) Demokratie und Sozialismus vereinigen
kann. Denn noch glaubte ich, dass der Sozialismus, wenn er demokratisch gestaltet – also mit Pressefreiheit, Reisefreiheit,
Versammlungsfreiheit und freien Wahlen versehen – wird, als Gesellschaftssystem funktioniert. Du sagtest mir damals: »Zähl
einfach all die negativen ökonomischen und politischen DDR-Details, die du in deinem Buch ›Der Erste‹ beschrieben hast, zusammen,
und du wirst begreifen, dass dieses Gesellschaftssystem heute keine Chance hat. Doch wahrscheinlich warst du in Mathe schlecht.«
Ja, das war ich. Und als ich in Kamyschin irgendwann aus der Zeitung erfuhr, dass Honecker abgesetzt ist, dachte ich: »Vielleicht
jetzt.« Und als ich in der sowjetischen Nachrichtensendung »Wremja« irgendwann im November auf dem Bildschirm (mit Zeilenflackern
und ohne Ton!!!) die Berliner Mauer erkannte, auf der fröhliche Menschen standen und Sekt tranken,
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