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Utopolis

Utopolis

Titel: Utopolis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Illig
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»Stimmungsbild« von mir zu entwerfen. Geheimnisse gab es nicht innerhalb der Genossenschaft.
    »Komm übermorgen nach der Sitzung des Zentralrates wieder zu mir, dann gibt’s für dich zu tun.« Damit verabschiedete mich Tirwa. Er trug mir noch auf, die Privatstadt zu meiden. Ich unterdrückte verschiedene Fragen und ging.
    Den Stadtteil, der den Privaten überlassen war, hatte ich von einer der oberen Terrassen des Turms, auf der die Fernflugzeuge landeten, weit draußen nach Norden, zu schon liegen sehen. Er war unregelmäßig gebaut, verschachtelt und wirkte gegen die übersichtliche Arbeiterstadt wie ein Trümmerfeld. Ich sehnte mich nicht danach, ihn kennenzulernen.
    Nach zwei Tagen war ich zur Stelle. Die öffentliche Sitzung des Zentralrats tagte in der Turmhalle, die fünfzigtausend Menschen Sitzraum bot. Wie in der Arena, wo Hein eine Luftspiegelung erdolchen wollte, so waren auch hier Lautsprecher unsichtbar verteilt. Auf je hundert Sitzplätze entfiel ein Rednerpult mit Schallverstärker. Fernschreiber meldeten dem Versammlungsleiter die Namen der Debatter und photographierten sie automatisch und in Nummernfolge auf ein laufendes Band.
    Da es als ungeschriebenes Gesetz galt, nur in die Debatte einzugreifen, wenn wesentlich Neues gesagt werden sollte, verliefen diese Massenversammlungen meist kürzer und ruhiger als bei uns in der alten Welt.
    In normalen Zeiten wurden die monatlichen Versammlungen nur von wenigen Tausenden besucht. Man konnte ja die Berichte bequemer im Hausradio anhören.
    Diesmal waren mehr als die Hälfte der Plätze besetzt. Der Rechenschaftsbericht bewegte sich zum großen Teil in statistischen Zahlen und Wortabkürzungen, von denen ich wenig verstand. Er wurde schweigend aufgenommen. Die Debatte überging ihn. Der Wirtschaftsapparat funktionierte, das wußte man.
    Die Anfragen schienen mir geringfügig, da sie aber, wie auch die Antworten des Zentralrates, mit wachsendem Anteil der Masse hingenommen wurden, wobei sich Zustimmung oder Ablehnung gruppenweise stark ausprägte, mußten sich hinter den harmlosen Redewendungen tiefere Bedeutungen verbergen, die ich nicht kannte.
    Von Sektion 38 fragte ein Mann: »Sind die Erdbe benmesser des geographischen Instituts noch im Kellergeschoß des Turmes untergebracht? Verzeichnen sie auch kleine Erschütterungen in der Nähe?«
    »Sehr gut!« unterstützten einige hundert Kehlen die se Anfrage. Der Zentralrat wußte darüber nicht Bescheid, versprach aber, das Gutachten der verantwortlichen Genossen einzuholen.
    »Wird Zeit!« rief eine helle Stimme.
    Ein anderer wollte wissen, wann der Urlaub des Genossen Noris ablaufe. Bevor die Antwort kam, rief eine Gruppe im Takt dagegen: »Joll soll kommen – Joll soll kommen!« Dieser Ruf wurde mit Begeisterung aufgenommen. Immer mehr fielen in den Rhythmus ein. Und schließlich dröhnte es von vielen tausend Zungen im Gleichtakt: »Joll soll kommen!«
    Die Gegenrufer waren in der Minderzahl.
    Ein Mann am Tisch des Zentralrates sprang erregt auf und schrie in sein Mikrophon, daß die Lautsprecher wie eine Orgel den Massenlärm überbrüllten: »In sieben Monaten könnt ihr Joll wieder wählen, jetzt ist Noris der Kopf im Zentralrat; Genosse Noris bricht morgen seinen Urlaub ab.«
    »Sieben Monate«, sagte neben mir ein eisgrauer Ar beiter leise vor sich hin, »sieben Monate … zu spät …«
    Der Tumult war ziemlich groß und für Utopien besonders ungewöhnlich.
    Dabei fiel mir auf, daß von den Privaten nicht gesprochen wurde.
    Tirwa wartete schon auf mich und zog mich in sein Zimmer. »Nun, was meinst du?« fragte er in seiner trockenen Art. Er wartete aber zum Glück keine Antwort ab, es mochte ihm wohl eingefallen sein, daß ich eine Meinung nicht haben konnte.
    »Es ist ganz klar«, sagte er, »die Privaten müssen jetzt etwas unternehmen. Unsere Eigenproduktion ist vollkommen geschlossen, es gibt keine Geschäfte mehr zu vermitteln zwischen der kapitalistischen Außenwelt und der Genossenschaft. Die Zeiten sind vorüber, da wir den Herren Extrawürste braten mußten, damit sie uns tausend Ballen schlechter Hemdenstoffe anscho ben. Sie leben nur noch von Schleichhandel und Schmugglergeschäften mit anderen Staaten. Natürlich verdienen sie auch damit genug Geld, aber es ist doch allerlei Risiko im Spiel. Daran sind sie nicht gewöhnt. Früher war das doch viel schöner: wenn die Konjunktur schlecht war, ließ man sich von der Staatskasse das Doppelte des normalen Gewinns auszahlen; der

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