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Utopolis

Utopolis

Titel: Utopolis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Illig
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erreicht.
    Es war immerhin ein Zeichen zynischer Großzügigkeit, mir als Gefängniszelle einen Festsaal anzuweisen.
    Die Wände prunkten in Mosaiken aus Smaragden, Rubinen, Saphiren, Brillanten und anderem Edelgestein. Leuchtende Emailflüsse umrahmten diese Bilder. Man sah Bogenschützen in fremdländischen Trachten, die aufspringenden Pferden hinter Hirschen herjagten, Schlachtenszenen zwischen schwergepanzerten Rittern und halbnackten Hunnen, eine Prozession von Priestern, die sich demütig einem gefesselten und aus Pfeilwunden blutenden Märtyrer näherte.
    Ich ließ mich in einen goldenen Sessel fallen, sterbensmüde. Am liebsten hätte ich geschlafen. Gar nicht mehr aufwachen, nicht mehr denken, sorgen und Pläne machen … lohnt nicht, Schluß damit. Aber ich war doch innerlich zu aufgewühlt. Die Augen schmerzten mich, ohne daß ich sie schließen konnte, so blinzelte ich teilnahmslos auf die gleißenden Bilder, bis sie zu leben begannen.
    Die Gestalten traten aus ihren Rahmen und füllten den Saal. Aus vielen Jahrhunderten waren sie zusammengekommen und gingen jetzt in Gruppen, friedlich und in munteren Gesprächen, hin und wieder. Immer Neue strömten aus den Wänden, Männer in behäbigen Bürgerwämsern mit goldenen Patrizierketten um den Hals, Heerführer und Fürsten in klirrenden Uniformen, Kardinäle in roten Damastroben, Kaufherren mit brillantblitzenden Fingerreifen und plump-goldenen Uhrketten über prallsitzenden weißen Westen. Es fehlten nicht mongolische Eroberer mit bernsteinfunkelnden Tigeraugen und goldenen Geißeln im Gürtel. Nicht fehlten die spanischen Inkamörder in blutrostigen Brustharnischen, über denen sich weiße Brabanter Spitzenkragen spielerisch frauenhaft kräuselten.
    Und alle verstanden sich sogleich, begrüßten sich zuvorkommend, höflich, höfisch, wie bei einem großen Bankett, wo Haß, Ehrgeiz und Selbstliebe unter glatten, gefälligen Formen so tief versteckt werden, daß der Unkundige das Zeitalter ewigen Friedens und paradiesischer Eintracht gekommen glaubt.
    Da schleppten Sklaven eine schwere Truhe herein, an die sie mit Ketten geschmiedet waren. Der Deckel sprang auf, eine dicke, goldene Kröte kroch heraus und begann zu sprechen: »Wer mir das meiste Menschenblut zu trinken gibt, der soll Herr der Erde sein!«
    Hei, flogen da die Degen und Schwerter aus den Scheiden, Dolche blitzten, Pistolenläufe funkelten. Mordlust glitzerte aus aller Augen. Aber einer der dic ken Kaufleute hob die Hand und sprach: »Edle Herren, jedem von uns ziemt die Weltherrschaft und keiner wird freiwillig auf sie verzichten. Sollen wir aber darum unser eigenes, edles Blut vergießen? Wollen wir uns umbringen, da die Tafel der irdischen Freuden so reich für uns bestellt ist? Lasset uns lieber das Blut opfern, das uns leibeigen und hörig ist. Wer davon dem goldenen Gott am meisten hinfließen lassen kann, dem soll die Herrschaft gebühren.«
    Dieser Vorschlag fand lebhaften Beifall. Und nun schleppten sie herbei: die Fürsten ihre Bauern, die Heerführer ihre Soldaten, die Eroberer trieben ganze Völkerschaften vor sich her, die Priester stießen Ketzer scharenweise in den goldenen Schlund, die Kaufherren hetzten Arbeiter, Männer, Frauen und Kinder, eine un übersehbare Masse von bleichen, verhärmten Men schen, ohne Erbarmen in den goldenen Tod.
    Die Kröte fraß und wuchs, fraß und wuchs und ächzte: »Mehr mehr! Das alles ist die Weltherrschaft noch nicht wert. Viel blutiger und grausamer müssen eure Kriege werden, viel schneller müssen die Fabriken eure Sklaven verbrauchen Tempo … Tempo! – Sonst freß ich auch euch!«
    Die Herren und Herrscher verdoppelten ihre An strengungen. »Hier, liebe Kröte: ein kriegsstarkes Regiment von Siebzehnjährigen, zart und knusprig.«
    »Hier, liebe Kröte: zweihundert Bergarbeiter. Jeder hat Familie. Da kommt der Rest bald nach.«
    »Hier, liebe Kröte: ein ganzes Schock feingliedriger Mädchen. Wir haben ihnen eingeredet, daß sie sich über dem Kindlein, das sie gebären wollen, zu Tod schämen müßten …«
    An den vier Ecken des Saals arbeiteten auf kleinen Tribünen Henker um die Wette. Das Fallbeil sauste, das große Richtschwert blinkte durch den Blutnebel. »Die sind gut«, schmatzte die Kröte, »der Lebenssaft von Revolutionären und freien Geistern schmeckt am besten. Mehr, mehr davon!«
    Am Galgen knackten die Genicke von ausgehungerten Bauern. Das ging hopp-hopp, die Herren lachten. Viele drängten sich um den elektrischen

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