Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Utopolis

Utopolis

Titel: Utopolis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Illig
Vom Netzwerk:
und Umzügen und berauschten sich an der großen Brüderlichkeit, um dann, zu Hause, wieder kleine Alltagstyrannen zu werden, mit Eitelkeiten und neidischem Zank von Tür zu Tür. Sie lebten das gemeinsame Schicksal ihrer Klasse und vollendeten es durch die selbstverständliche Tat.
    Mein Schmerz um Jana stumpfte nicht ab, aber er weitete sich aus, er umspannte das Leid, das uns allen widerfahren war, und erst in dieser Gestalt gab er mir Kraft, mich wieder zugehörig zu fühlen und mitverantwortlich für die Zukunft, die den Lebenden geweiht ist.
    Unter denen, die die Totenbahren herantrugen, erkannte ich Noris. Er war in den wenigen Tagen um Jahre gealtert. Das gutmütige und freundliche Lächeln, das beinahe sprichwörtlich geworden war, hatte er wohl für immer verlernt. Ich grüßte ihn. »Faß mit an, Genosse«, sagte er rauh, »da sind noch viele …« und lud seine schreckliche Last behutsam ab.
    Die Traggeräte reichten nicht aus. Während ich mich nach einem Behelf umsah, rief mich ein Verletzter an. Er kroch auf den Knien, ein Steinbrocken hatte ihm den linken Fuß zerschmettert. Ich stützte ihn, so gut es gehn wollte. Die Fahrstühle nach der Krankenabteilung im achtzigsten Stock waren überfüllt. Wir standen im Korridor an. Ein Arzt ordnete die Transpor te nach der Dringlichkeit. In das Stöhnen der Schwerverwundeten mischten sich die Wutausbrüche derer, die das Schurkenstück der Morgons zu durchschauen begannen. Dieser Haß war für alle Zeiten eingebrannt, fühlte ich, er mußte hinauswirken in die übrige Welt, die noch am Goldfieber litt. Vielleicht wäre er mächtiger und sieghafter, als das Evangelium der Liebe, das sich so leicht in zweideutige Worte und verräterische Handlungen umbrechen läßt.
    Nachdem ich meinen Kameraden eingeliefert hatte, half ich mit, die drei nächstunteren Stockwerke in Krankensäle zu verwandeln. In normalen Zeiten hatte die achtzigste Raumschicht mit ihren breiten Sonnengalerien in luftiger Höhe, die den Ärzten zugewiesen war, überreichlich dem Bedarf der ganzen Arbeiterstadt genügt. Die Armenkrankheiten Tuberkulose und Rachitis kannte man nicht mehr. Geschlechtskrankheiten waren, dank der allgemeinen Aufklärung und rückhaltlosen Offenheit unter den Genossen, eingegangen, Betriebsunfälle äußerst selten. Die häufigsten Gäste waren Private, die bei schweren Leiden um Aufnahme in unsere Klinik ersuchten, weil sie unseren Ärzten mehr zutrauten als ihren Salondoktoren. Sie mußten natürlich reichlich dafür bezahlen. Jetzt rollten wir sie in ihren Betten in ein Nebenzimmer. Sie protestierten und pochten auf das Recht, in Einzelräumen untergebracht zu sein. Sie ahnten nicht, was inzwischen vorgegangen war, sonst wären sie wohl still gewesen.
    Der Zustrom wuchs. Aus den Hausburgen sammelten sich nach und nach alle im Turm an, die vor Übermüdung den Appell Jolls verschlafen hatten, und die Siechen, die hilflos in den Winkeln vergessen worden waren. Es wimmelte wie in einem Ameisenbau. Tirwa ließ in der Turmhalle sammeln und Lebensmittel heranschaffen.
    Im Fahrstuhl traf ich einen Genossen Ingenieur, der mich kannte.
    »Habt ihr vielleicht im Panzergraben ein Mädchen? …« Er schnitt meine Frage ab: »Müssen sehn, daß wir sofort die Brotfabrik in Schwung bringen« und gab seiner Kolonne Anweisungen. Nein, ich wollte nicht mehr fragen; helfen, arbeiten, das gebot die Pflicht der Stunde.
    Unser improvisiertes Lazarett füllte sich. Genossen, die im Sanitätsdienst ausgebildet waren, übernahmen die Wache. »Such’ dir eine stille Ecke und schlaf dich aus«, riet mir einer freundlich, »du taumelst uns nur im Weg herum.« Er hatte recht, meine Kräfte waren erschöpft. Ich schleppte mich hinaus auf die Terrasse, sackte zusammen und schlief schon.
     
36
     
    Ich träumte Geheul von Sirenen und Geschrei von Menschen. Jemand rüttelte mich wach. »Joll kommt!« Das war es. Sie drängten alle heraus auf die Balkone und Galerien. Die Begeisterung riß mich mit. Da stan den wir Mann bei Mann und schauten nach Westen aus. Unter uns, auf dem breiten Vorbau, wo die Flugzeuge landeten, erkannte ich Tirwa. Ganz in der Tiefe, im zerstörten Park, blinkten rote Punkte, da schwenkten sie Fahnen.
    Das Brausen der Stimmen schwoll und übertönte die Signalpfeife. Vom Horizont lösten sich schwarze Punkte ab und vergrößerten sich rasch. Allen voraus Jolls kleine Maschine.
    Dreimal im Gleitflug umkreiste er den Turm. Die Sirenen verstummten. Sein Name allein brandete

Weitere Kostenlose Bücher