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Utopolis

Utopolis

Titel: Utopolis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Illig
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matt mit dem Handrücken über die Stirn.
    Vom Horizont schimmerte in fahlem Streif der Morgen herauf. Wie kühl und klar atmete sich die Luft. Der giftige Brodem der Metalldämpfe wich aus meinen Lungen. Damit loste sich auch die innere Erstarrung. Ich machte mich auf, Schritt vor Schritt, turmwärts. Ich sehnte mich nach Menschen, die mich kannten, nach vernünftigen, gesunden Menschen, die meinen Schmerz begreifen und mich trösten würden. Es waren durchaus egoistische Gedanken. Ich bildete mir einen besonderen Anspruch auf Mitleid ein und wollte es kassieren wie ein Unterstützungsgeld.
    Der Sprenggraben unterhalb der Turmmauer war verlassen. Die Arbeiter, die man gezwungen hatte, an ihm zu fronden, standen in Gruppen auf dem Wiesenplan. Zu ihnen hatten sich die Teufelsaustreiber gesellt. Aus ihren frischen Wunden sickerte noch Blut, aber die Geißeln hatten sie fortgeworfen. Der Wahnsinn in ihren Augen war erloschen.
    »Wo warst du?«
    »Weiß nicht – habe tolles Zeug zusammengeträumt.«
    »Wer hat dich blutig geschlagen? – Und dich – und dich?«
    Sie blickten verlegen einander an: »Vielleicht ’ne Krankheit –’ne Art Krätze.«
    Die anderen lachten: »Gibt’s bei uns bloß noch in Märchen von der alten Welt – habt euch wohl mit Igeln gekitzelt – wie?«
    »Und was grabt ihr für ein scheußliches Loch in den Park, he? – Wer hat euch dazu angestellt? – Die schönsten Bäume sind zersplittert!«
    Da standen die Werkleute linkisch von einem Fuß auf den anderen, schauten einander fragend an und wußten keine Antwort.
    Die Leute vom Turm hatten bereits Notbrücken über den Schutzgraben gelegt. Sie untersuchten den Sprengkanal und fanden ihre Vermutung bestätigt. In wenigen Minuten hätte er den Felsen, auf dem das riesige Gebäude gegründet ist, zerrissen.
    Im Eingang zum Turm begegnete ich Tirwa.
    Er wich vor mir zurück, als sehe er einen Spuk.
    »Karl?« fragte er zweifelnd – aber nun sprang er auf mich zu, riß mich an sich und streichelte mir übers Haar wie einem Kinde. »Keinen Heller Privatgeld hätte ich mehr für dein Leben gegeben«, rief er und lachte wie ein Junge.
    »Und nun komm, stärk’ dich, ruh’ dich aus und berichte. Dann will ich dir sagen, was wir inzwischen getrieben haben. Waren auch nicht faul …«
    »Was ihr geleistet habt, weiß ich«, antwortete ich. »Hatte Gelegenheit, bei Morgon eure Arbeit zu bewundern. Jetzt aber zeig’ mir den Weg in den Schutzgraben. Ich will zu Jana.«
    »Wer ist Jana?« fragte Tirwa erstaunt. Aber dann sah er an meiner Haltung, wie es um diese Sache bestellt war.
    »Viele Hunderte, vielleicht Tausende von Genossen und Genossinnen haben ihr Leben hingeben müssen«, sagte er finster, »eine unter diesen allen ist Jana.«
    Er winkte einen jungen Genossen heran und bat ihn, mich zu führen. »Du findest mich in der Zentrale, Joll ist schon unterwegs …«, drückte mir rasch die Hand und ging.
     
35
     
    Wir suchten Nische für Nische an den vier Seiten des Schutzgrabens ab, ohne eine Spur von Jana zu finden. Mein Begleiter schaute mich zweifelnd von der Seite an. Er hielt mich wohl für geistesgestört. Ich dankte ihm hastig und lief wieder hinaus vor den Turm.
    Da trugen sie Verwundete heran, die bei den Sprengungen zu Schaden gekommen waren; alle Leute, die kein wichtiger Dienst abhielt, halfen. Die anderen, die draußen gewesen waren, unter dem Einfluß der Strahlung, standen neugierig dabei. Immer heller wurde es in ihnen, Erinnerungen tauchten herauf: unser Turm … unsere Stadt … unser Land? Keine Aufseher, keine Teufel mit Hetzpeitsche und Trillerpfeife hinter uns? Sie begannen zu fragen wie Kinder. Manche reihten sich in die Schar der Träger ein und sparten sich die Worte für später auf.
    Hier hatte ich nichts zu suchen, aber drüben auf dem Wiesenplan, wo man die Toten aufbahrte.
    Männer und Frauen lagen da mit zerrissenen Gliedern, eine stattliche Heerschau des Todes. Immer neue schleppten sie heran. Wie erstarrte Masken des Grausens die Gesichter. Aber viele hatten keine Gesichter mehr. Von einem zum anderen ging ich. Jana war nicht unter ihnen.
    »Wer ist Jana?« hatte Tirwa gefragt. Nicht im Tonfall der Neugier, sondern der Abwehr eines einzelnen Namens. Diese Toten lehrten mich ihn verstehn. Bisher hatte ich den Geist der Gemeinschaft, der die Menschen in der Arbeitsgenossenschaft verband, mit dem Kopf begriffen. Jetzt senkte er sich mir ins Herz. Sie »veranstalteten« keine Kollektivgefühle in Versammlungen

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