Vaclav und Lena
Hinterhöfen voller Spielzeug, Wäscheleinen und noch mehr Wäscheleinen, Graffiti in knalligen Farben, Abfall, der ihr bekannt vorkam und auch nicht, die Dächer von Gebäuden, vergessene Reklametafeln, Reklametafeln, auf die jemand in Schwarz seinen Namen gesprayt hatte, den Himmel, Tauben in Bäumen, die Station
Neck Road
, die Station
Ocean Parkway
und dann endlich das Hinweisschild
Coney Island/Stillwell Avenue
, wo sie aussteigen mussten.
|96| Die Welt, in Farbe getaucht
Als es an der Zeit war, auszusteigen, nahm Vaclav Lenas Hand und wies auf die Lücke zwischen dem Zug und dem Bahnsteig, damit Lena achtgab. Sie gingen beide den Bahnsteig entlang bis zur Treppe, und Rasia folgte ihnen dicht auf den Fersen. Vaclav kannte den Weg zum Ausgang des U-Bahnhofs , weil er schon in Coney Island gewesen war, aber er blickte zurück, um sich zu vergewissern, dass seine Mutter immer noch da war.
Als sie die Treppe des oberirdischen U-Bahnhofs hinuntergingen, wehte ein lauer Wind und trug einen leichten Geruch wie im hinteren Teil des Supermarkts, wo man Fisch verkaufte, an Lena heran. Während sie die Surf Avenue überquerten, konnten Lena und Vaclav den Cyclone sehen, der sich über den Würstchenbuden hochschlängelte, und die Tarot-Dame und die Kinder und Damen in knappen Jeansshorts. Zwischen den Straßen, an der Cyclone-Achterbahn und den Hotdogs und den Menschen vorbei, konnte Lena den Strand sehen und dahinter den Atlantik.
Lena, die in einem bräunlich grauen Loch mit ihrer winzigen, bräunlich grauen Großmutter aufgewachsen war und auf Betonstraßen zu einer großen Backsteinschule ging, erschien die Welt wie in Farbe getaucht.
Zusammen schlängelten sie sich rasch an den Fahrgeschäften und Buden vorbei, die Hüte und T-Shirts verkauften, und an all den wilden Sachen und wilden Leuten und all dem Frittierten. Es schien, als wäre jeder ihnen im Weg, und Vaclav kam es so |97| vor, als wären sie bereits dabei, Zeit zu verschwenden. Lena, die weiter Vaclavs Hand umklammert hielt, blickte nicht um sich auf die Menschen wie zuvor in der U-Bahn . Sie blickte durch alles hindurch, immer geradeaus, ohne auch nur einmal die Augen vom großen blauen Meer zu nehmen.
Sie zwängten sich mit einem »Darf ich mal vorbei« durch alles hindurch und kamen am anderen Ende heraus, auf der warmen hölzernen Strandpromenade, wo die Planken bei jedem Schritt ein wenig platschten wie Klaviertasten. Rasia bahnte sich den Weg zu einer Bank und setzte sich.
»Eine Minute, wir machen eine Pause.« Es war zu heiß, Rasia schwitzte am ganzen Leib, und der Ischiasschmerz zuckte ihr Bein hoch.
»Komm schon, Mum, lass uns zum Riesenrad gehen.«
»Eine Minute«, wiederholte Rasia.
»Ein Mississippi, zwei Mississippi, drei Mississippi, vier Mississippi …«, begann Vaclav die Sekunden einer Minute abzuzählen.
»Hör zu, Mister Hummel-im-Hintern. Ich hab nicht genau eine Minute gemeint, ich hab gemeint, machen wir eine kleine Pause«, sagte sie. Vaclav sah aus, als würde er gleich explodieren.
»Komm schon! Die Zeit läuft! Wir verpassen das Riesenrad!« Rasia schaute zu dem Wonder Wheel, das über ihnen ragte. Sie konnte von ihrem Platz aus die Gondeln und gerade noch die Köpfe der Passagiere sehen. Es sah gar nicht schnell aus.
»Komm schon!«, drängte er. »Komm schon, komm schon, komm schon!«
»Okay, hört mal zu«, sagte sie. »Ihr geht direkt zum Wonder |98| Wheel, fahrt einmal und kommt schnurstracks hierher zurück«, und sie überreichte Vaclav fünf Dollar in Eindollarscheinen. Sie und Vaclav hatten schon ausgiebig über die Regeln für diesen Tag geredet, die all die schrecklichen Sachen, die sie jede Woche im amerikanischen Fernsehen sah, von ihrem Sohn fernhalten sollten. Er wusste, dass er nicht mit Fremden reden sollte, wie man einen Polizisten um Hilfe bittet, wie man brüllte, wenn jemand einen belästigte, und dass man genau an der Stelle bleiben sollte, wo man sich verirrt hat. Fünf Minuten wären okay.
»Ja!«, sagte er. »Lena, LOS geht’s!«
Als sie sah, dass er in die große amerikanische Menschenmenge unter den großen amerikanischen Achterbahnen eintauchte, hatte sie das Gefühl, die Welt drehte sich ungestüm von ihr weg, und sie saß weinend da, glücklich und auch traurig, dass er nicht zurückschaute, sie liebte seinen kleinen Körper so sehr und seinen Hinterkopf mit den widerspenstigen Haarwirbeln und diesen schmächtigen Brustkorb und die Art, wie er es schon verstand, die Hand eines
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