Vaclav und Lena
habe dich lieb, oder Sei brav, oder Mir egal, ob ich dich je wiedersehe, ich hasse dich, oder Amüsier dich auf dem Cyclone, und Viel Spaß, wenn du das Meer zum ersten Mal siehst. Die Tante wandte sich nur um und ließ Lena zurück.
Rasia bemerkte, dass Lena noch Krümel von Schlaf in den Augen hatte, und das Herz brach ihr noch ein wenig mehr. Sie stand in der Türöffnung und schaute fassungslos zu, wie die Tante davonstapfte und sich im Gehen eine Zigarette anzündete.
»Auf Wiedersehen«, antwortete Lena ebenfalls auf Russisch, aber da war die Tante schon zu weit entfernt, um das noch zu hören.
|90| Vaclav hat seinen großen Auftritt
»Lena, komm rein, es ist sehr schön, dich hier zu haben …, zieh bitte deine Schuhe aus«, sagte Rasia und zeigte auf die Reihe mit den Schuhen von ihrer Familie neben der Tür: ihre Slipper, die hässlichen Arbeitsschuhe ihres Mannes und Vaclavs neue Extra-Schuhe mit eingebauten Lichtern an den Fersen und doppeltem Velcro-Klettverschluss, weil niemand in Amerika, nicht einmal die Kleinkinder, Zeit hat, sich die Schuhe zu binden, und alles Blinkleuchten haben muss.
Lena ging bis zur Reihe der Schuhe und stellte sich so, dass ihre Füße genau neben den aufgereihten leeren Schuhen waren. Lena trug Turnschuhe zum Hineinschlüpfen aus weißem Leinenstoff, und ohne mit den Armen hinrunterzulangen oder die Stellung ihres Oberkörpers auch nur zu ändern, gebrauchte sie die große Zehe ihres linken Fußes, um den Schuh ihres rechten Fußes abzustreifen, und dann die große Zehe ihres rechten Fußes, um den Schuh ihres linken Fußes abzustreifen. Auf diese Weise zog sie die Schuhe aus, ohne sich viel zu bewegen und ohne Rasia aus den Augen zu lassen.
Vaclav spähte aus der Diele und sah, dass Lena ihre Schuhe mit der geringstmöglichen Anstrengung ausgezogen hatte und genau auf die Stelle getreten war, wo sie die Schuhe haben wollte, um sie kein Mal verschieben zu müssen, wenn sie einmal von den Füßen waren. Innerlich lächelte er ein wenig und trat vor, um sich bekannt zu machen.
»Hallo. Ich bin Vaclav. Freut mich, dich kennenzulernen. Willkommen bei mir daheim, kann ich dir etwas zu trinken |91| bringen?«, sagte er und bemühte sich sehr, nicht einstudiert zu klingen. Lena schaute nur zu Boden, verlegen, und schüttelte den Kopf. Sie hatte an diesem Samstag noch kein einziges Wort gesagt.
»Okay.« Vaclav wurde verlegen, als er sich überlegte, warum Lena ihm wohl nicht antwortete, warum sie verlegen zu Boden starrte. Er hatte gesagt »Freut mich, dich kennenzulernen«, aber es war natürlich nicht das erste Mal, dass er Lena traf, weil sie zusammen Unterricht hatten und im Kindergarten in derselben ES L-Gruppe waren. Vaclav spürte, wie sein Gesicht sich erhitzte. Er fühlte sich unbehaglich, aber er bemerkte, dass auch Lenas Gesicht erhitzt und unbehaglich aussah.
Alle drei standen stumm da und blickten auf den Boden zwischen ihnen.
»Muss jemand ins Bad, bevor wir losziehen?«, sagte Rasia.
»Nein«, sagte Vaclav, »ich war schon«, er schaute Lena an, aber sie sagte nichts.
»Okay, ich mach Pipi, und dann gehen wir«, sagte Rasia, drehte sich um und ging ins Bad, wobei sie Vaclav und Lena zurückließ, die vereint den Boden anstarrten.
|92| Ein neues Gefühl von Geborgenheit
Während sie zusammen zur U-Bahn -Station gingen, unternahmen Vaclav und seine Mutter die seltsamsten Anstrengungen, um eine Unterhaltung über Themen in Gang zu bringen, die Lena vielleicht interessieren könnten und die in klarem und einfachem Englisch waren, sodass sie zuhören und sich eingeschlossen fühlen konnte, die aber von ihr weder Reaktion noch Antworten verlangten. Sie redeten davon, wie gegen Ende des Sommers die Schule anfangen würde, über Vaclavs Lieblingsshows im Fernsehen und welche Hitze draußen herrschte, doch Lena blieb teilnahmslos.
Den ganzen Weg auf der East Sixteenth Street bis zur Avenue U, weiter zur U-Bahn -Station und die Treppe hinauf zum Bahnsteig tanzten Vaclav und seine Mutter um Lena herum, ständig bemüht, sie immer zwischen sich zu halten. Aber Lena ging langsam, den Blick auf den Boden gerichtet, und Vaclav und seine Mutter mussten ihrerseits den Schritt verlangsamen, um sie in ihrer Mitte zu halten und die Illusion zu wahren, dass sie miteinander einen schönen Morgen verbrachten.
Lena war sich nicht sicher, was sie tun sollte. Sie war bisher nur mit ihrer Großmutter und der Tante ausgegangen. Als die Großmutter noch lebte, hatte sie die
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