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Vaclav und Lena

Vaclav und Lena

Titel: Vaclav und Lena Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haley Tanner
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Wohnung kaum verlassen, denn die Großmutter war schwach und ließ sich die Mahlzeiten, welche sich Lena und die Großmutter dann teilten, durch die freundlichen Ehrenamtlichen von
Essen auf Rädern
frei Haus liefern. Also gingen sie meist bloß für Toilettenpapier |93| und Müllsäcke zum Laden an der Ecke, und das auch äußerst selten. Und die Tante nahm Lena ebenfalls selten irgendwo mit hin.
    Lena war noch nie U-Bahn gefahren und machte sich Gedanken, weil sie kein Geld hatte. Sie hatte nicht die Selbstverständlichkeit von Vaclav, der völlig darauf vertrauen konnte, dass seine Mutter ihm alles geben würde, wenn er etwas brauchte. Lena benötigte oft Geld für Dinge, aber von der Tante erhielt sie keines. Sie hatte die Tante nur ein einziges Mal um Geld gebeten und dann nie wieder.
    Je mehr sie sich der U-Bahn -Station näherten, desto mehr bekam Lena es mit der Angst, dass sie irgendwie würde zahlen müssen und in die Verlegenheit käme, Vaclav oder seine Mutter um Geld zu bitten. Und selbst wenn sie Geld gehabt hätte, hätte sie nicht gewusst, was sie in der U-Bahn hätte machen sollen oder wie man in den Zug einstieg, und sie geriet in Panik.
    Als sie die U-Bahn -Station erreichten, zögerte Lena und wollte keinen Schritt weitergehen, sie wusste nicht, wohin in dem seltsamen Gewirr aus Drehkreuzen, die Käfigen ähnelten, und sie sah, dass die Leute orangefarbene Karten durch ein Gerät zogen, und sie hatte keine.
    Vaclav stellte sich neben Lena und winkte am großen Metallkäfig dem Mann zu, der in dem Kassenhäuschen auf der anderen Seite saß. Vaclav zeigte auf seinen eigenen Kopf und auf Lena und hielt dann zwei Finger hoch. Der Drehkreuz-Käfig gab ein Summen von sich, und Vaclav nahm ihre Hand.
    »Komm, wir gehen da zusammen durch!«, und um sicher zu sein, dass Lena sich nicht schämte, fügte er hinzu: »Es macht mehr Spaß, zu zweit durchzugehen.«
    |94| Lena war erstaunt, dass Vaclav den Mann im Häuschen kannte und die besonderen Handsignale, die den Mann dazu brachten, das komplizierte Drehkreuz zu öffnen und sie beide gratis durchzulassen. Sie wusste noch nicht, was Vaclav ihr später erzählen würde, dass nämlich bis zu drei Kinder, die nicht größer als ein Meter zehn waren, umsonst U-Bahn und Stadtbus fahren dürfen, wenn sie in Begleitung eines den Fahrpreis zahlenden Erwachsenen sind, und als er ihr das sagte, verlor sich das Geheimnisvolle der U-Bahn , und ein neues, erstaunliches Gefühl von Freiheit trat an seine Stelle. Doch das Gefühl der Geborgenheit, als Vaclav ihre Hand hielt, verlor sich nie.
    Im Zug zeigte Vaclav Lena den besten Platz zum Sitzen (ganz hinten, nicht in Fahrtrichtung, am Fenster), und Rasia setzte sich ihnen gegenüber, die Handtasche auf dem Schoß, und beobachtete, wie Lena alles beobachtete, und Vaclav beobachtete seinerseits Lena.
    Wie Lena sich alles anschaut
    Im Zug sah Lena: eine weiße Dame mit großer Ledertasche und großen Lederstiefeln und voluminösem Kraushaar, die auf einen Schwarzen einredete, der Selbstgespräche führte, eine halb volle Saftflasche, die im Abteil hin und her rollte und gegen jedermanns Fuß stieß, einen Mann im Anzug, der eine Zeitung vom Boden aufhob und sie las und unter seinen Arm |95| klemmte, um sie beim Aussteigen mitzunehmen, einen einarmigen Mann, eine Dame mit Handschuhen wie ein Arzt, eine spindeldürre Dame, die Hähnchen aus einem Pappbehälter aß, drei Mädchen, die sich gegenseitig die Gesichter schminkten, zwei alte, Händchen haltende Damen, einen Teenager mit zart sprießendem Schnurrbart und überdimensionalen Kopfhörern, eine Dame mit einer Plastiktüte voller Plastiktüten, drei Männer mit großen schwarzen Hüten und Haarlocken an den Schläfen, drei Damen mit dem gleichen akkuraten Haarschnitt, die ihre Kinderwagen mit den Babys festhielten, einen Mann, nach vorne gesunken und auf seinen Knien eingeschlafen, eine Frau, die unter der Bluse ihr Baby stillte, eine Frau, die unter der Sonnenbrille weinte, und zwei Mädchen in weißen Hemdblusen und roten Röcken, die lachten und flüsterten.
    Vaclav sah, wie sich Lena alles anschaute. Vaclav stierte meist aus dem Fenster, wenn er U-Bahn fuhr, und es brauchte etwas ganz Besonderes, etwa einen Obdachlosen ohne Schuhe, der als Außerirdischer verkleidet war, oder jemanden, der sehr, sehr laut sang, damit er hinguckte.
    Als Lena alles registriert hatte, was es im Zug gab, schaute sie aus dem Fenster. Durchs Fenster sah sie: Häuser mit winzigen

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