Vaclav und Lena
war klein, als er sie gekannt hat, viel kleiner als andere Kinder in ihrem Alter. Sie könnte immer noch klein sein. Vaclav fragt sich, wie sie das Haar trägt. Sie könnte es in einem Pferdeschwanz tragen oder kurz geschnitten mit Pony. Vaclav macht sich klar, dass sie vielleicht Nasen-Piercings hat, oder sie hat sich die Haare blondiert und sie später rosa gefärbt. Sie könnte dick sein oder große schwere Stiefel tragen oder ärmellose Hemden mit der Aufschrift »Prinzessin«, und nun wird ihm bewusst, dass viele |179| Jahre sie trennen und sie beide vielleicht zu ganz unterschiedlichen Menschen geworden sind.
Sie könnte die Sorte Mädchen sein, mit der er nie sprechen würde, ein Mädchen, das sich grauenvolle Musik anhört, ein Mädchen, das nur mit Footballspielern redet, oder ein Mädchen, das in der Mittagszeit im Freien raucht.
Er hat versucht, sie bei Facebook zu finden, aber als er da zuletzt nachgeschaut hat, gab es 193 000 Mädchen mit dem Namen Lena und keines mit ihrem Nachnamen. Als ihm klar wurde, dass sie womöglich einen neuen Nachnamen hatte, gab er auf.
Lena hat vielleicht einen Führerschein. Hat vielleicht einen Freund. Sie kann wahrscheinlich viel besser Englisch. Lena hat wahrscheinlich Busen. Vaclav erkennt, dass er sie die vergangenen zehn Jahre klein gehalten hat, und jetzt, an ihrem siebzehnten Geburtstag, lässt er sie endlich erwachsen werden, und sie entfernt sich von ihm. Die einzige Lena, die Vaclav hat, ist die Lena aus seiner Erinnerung, die reale Lena ist jemand, den er nicht kennt, jemand, den er vielleicht nicht einmal mag. Während er auf dem Bett liegt, hat er das Gefühl, dass Lena ihm entwischt, und zum ersten Mal überlegt er, dass er heute Abend Lena vielleicht nicht Gute Nacht sagen wird. Und das fühlt sich plötzlich erschreckend und zugleich tröstlich und befreiend an.
Doch dann gesteht er sich ein, dass er Lena natürlich Gute Nacht sagen wird. Vaclav versucht herauszufinden, was es wohl bedeutet, Lena nicht Gute Nacht zu wünschen. Er macht eine Liste:
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Lena nicht Gute Nacht sagen: Gedanken
Ich habe Lena sieben Jahre lang Gute Nacht gesagt
Das bedeutet, ich sollte es weiterhin tun
Es kann auch bedeuten, dass ich aufhören sollte
Was wird passieren, wenn ich aufhöre
Vielleicht nichts
Vielleicht wird Lena sterben
Die letzte Zeile überrascht Vaclav, weil er sich selbst oder jemand anderem den Gedanken nie hatte eingestehen wollen, dass er glaubt, dass Lena sterben wird, wenn er ihr keine Gute Nacht wünscht.
Dumm, so etwas zu denken, aber Vaclav fragt sich, ob Lena wirklich sterben wird, wenn er ihr keine Gute Nacht wünscht. Er ist sich nicht sicher.
Dann wird Vaclav klar, dass er nie wissen wird, ob das Gute-Nacht-Sagen je eine Wirkung hatte, denn aller Wahrscheinlichkeit nach wird er Lena nie wiedersehen, selbst wenn, dann wird er nie den Beweis haben, dass seine Gutenachtwünsche sie jemals beschützt haben.
|181| Lena ist nicht greifbar
Vaclav überlegt noch immer, wie er es mit dem Gute-Nacht-Sagen halten soll, und er hat das Gefühl, wenn er es an diesem Abend tut, dann bedeutet das, dass er für den Rest seines Lebens Gute Nacht sagen muss. Denn wenn er sich dafür entscheidet, wird er nie damit aufhören können. Aufhören würde nämlich bedeuten, dass er dafür verantwortlich ist, wenn Lena etwas Schlimmes zustößt. Sagt er heute nicht Gute Nacht, geht er ein großes Risiko ein, aber dann wird er es nie wieder sagen. Er hat auch Angst, dass er Lena loslässt, wenn er ihr heute nicht Gute Nacht sagt, doch weiß er aufgrund seines Nachdenkens über sie, dass Lena sich ohnehin schon von ihm entfernt hat.
Vaclav zieht sich aus und schlüpft in eine Jogginghose. Er faltet seine Jeans und legt sie in die Kommode und schaut sich im Spiegel an.
Er entscheidet sich, schlafen zu gehen und Lena nicht Gute Nacht zu sagen. Sein Bett ist kalt, und er spürt, wie sein Körper allmählich das Bett erwärmt, die Daunendecke und das Kopfkissen.
Er fragt sich, wann tatsächlich die erste Nacht sein wird, in der er Lena nicht Gute Nacht sagt. Denn jetzt hätte er immer noch Zeit, es zu tun. Gilt es bereits, wenn er einschläft, oder erst, wenn er am Morgen aufwacht und es nicht gesagt hat? Einen Augenblick lang fürchtet er, dass er es versehentlich sagt, einfach so den Gutenachtwunsch denkt, und dass es gelten könnte.
|182| Vaclavs Blicke wandern über die Wände seines Zimmers, als wäre es ein neues Zimmer, in dem er noch
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