Vaclav und Lena
nie zuvor gewesen ist. Er schließt die Augen, obwohl er überhaupt nicht müde ist.
Vaclav wünscht Lena keine Gute Nacht, doch er grübelt. Er grübelt immer wieder über etwas, das ihm unerkennbar scheint, wie die Grenzen des Weltalls oder das Gesicht Gottes. Nein, nicht einmal das Gesicht Gottes, das sich vielleicht jemand vorzustellen versucht. Lena ist für Vaclav genauso unerfahrbar wie das Gefühl, wenn man die Haut in Gottes Kniekehlen berührt, falls Gott Knie hat, was natürlich niemand wissen kann. Lena ist für Vaclav nicht greifbar. Lena ist Unendlichkeit. Lena ist das sich ausdehnende Universum. Lena ist der tiefste Meeresgrund, wohin niemals Licht gedrungen ist.
|183| GETRENNT: LENA
|185| Lena stellt Fragen
Lena hat nicht das Gefühl, dass heute ihr siebzehnter Geburtstag ist. Ein richtig gutes Geburtstagsgefühl, das hat sie schon, ein Gefühl, dass der Tag ein bisschen anders riecht als die sonstigen normal faden Tage. Dieser Tag riecht sonniger, heiterer, schärfer, leichter, aber Lena fühlt sich nicht wie siebzehn, nicht so, wie sie es bei ihren Freundinnen an deren siebzehntem Geburtstag sieht. Lena ist nicht begeistert wegen der Mit-Siebzehn-Sachen, Autofahren, nur noch ein Jahr Warterei bis zum Kauf von Zigaretten oder Lottoscheinen, zum Besuch einer Late-Night-Show von David Letterman, Wählenkönnen, Highschool-Abschluss, Erwachsensein. Der letzte Geburtstag, der sich wirklich wie ein Geburtstag anfühlte, war ihr neunter, und seitdem ist sie auf einem sich schnell drehenden Karussell, ohne richtig festen Halt. Und obwohl sie sich daran erinnert, dass sie Runden gefahren ist, dass ein Jahr und noch eins und noch eins verstrichen sind, hat sie das Gefühl, immer noch neun zu sein und nicht dort angekommen zu sein, wo sie hätte sein sollen.
Heute hat sie schon viele Geschenke bekommen, auch die folgenden:
|186| Neue Zeitschriften von Em
Geschenkgutscheine fürs Kino von den Großeltern und eine glitzernde Hallmark-Glückwunschkarte
Neue Socken von Em
Kollektion von zehn »unerlässlichen« Alben, um ihre musikalische Prägung zu verfeinern, von Em
Armbänder aus dem Laden, der Tibetanisches verkauft, von Olivia
Glückwunschkarte, unterschrieben von der Schülermitverwaltung
Geburtstags- T-Shirt mit glitzernder Textilfarbe von Perri und Faye
Exemplar von
Franny and Zooey
von J. D. Salinger, alt und benutzt aussehend, mit einer Widmung: »Für meine geliebte echte Franny anlässlich ihres siebzehnten
Geburtstags« von Ems Freund Allen
Stapel von zwanzig Geburtstagskarten von fiktiven Absendern, in Wirklichkeit von Em
Schachtel mit Fun-Art-Artikeln, darunter ein Knetgummiradierer und Stifte mit winzigen Spitzen von den Mitgliedern der Kunst-AG
Zu diesen Geschenken kommen noch allerlei Geburtstagsfeierlichkeiten, Luftballons, die an ihrem Schließfach festgemacht sind, ein Kuchen mit Kerzen beim Mittagessen und zu Beginn der ersten Schulstunde eine Lautsprecheransage, die ihr zum Geburtstag gratulierte.
Lena hat nicht das Gefühl, dass heute ihr Geburtstag ist, denn sie fühlt sich nicht als Person. Das ist kein neues Gefühl, |187| es ist immer präsent, aber es taucht auf und kling ab wie der Schmerz an ihren Weisheitszähnen. An schlechten Tagen fällt es Lena schwer, mit anderen zu reden. Es fällt ihr besonders schwer, wenn sie eine Sitzung der Schülermitverwaltung oder der Kunst-AG leiten oder ihre Mannschaftskameradinnen zum Fußballtraining zusammenrufen muss, doch sie steht es durch, indem sie jede einzelne Minute so tut als ob.
Manchmal sind diese Gefühle bloß unangenehm, als wenn man auf einer Party wäre, wo man keinen richtig kennt und wo man sich ständig überlegen muss, was man sagen soll. Manchmal machen ihr solche Tage sehr zu schaffen. So wie heute. Den ganzen Tag über haben Leute ihr zum Geburtstag gratuliert, und jedes Mal war es so, als reibe man über eine Stelle an ihrem Schädel, die wund ist. Sie bekam diese kleinen Gespräche auf dem Gang in den falschen Hals, sie gingen ihr auf den Wecker, sie fühlten sich an, als komme man beim Trampolinspringen falsch auf, immer und immer wieder.
Das letzte Schulklingeln ertönt, Freitagnachmittag, Ende der Woche, und obgleich Lena mit einigen Freunden ausgehen soll, die genügend Geld von ihren Eltern erbettelt haben, um sie zum Sushi-Essen einzuladen, schlüpft sie in einen als eklig bekannten Toilettenraum auf dem alten Korridor der Schule, in dem bisher nicht renovierten Teil, einen
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